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Kritische Neuinterpretation der Geschichte

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 ist sich auch ein Teil des Westens selbst abhandengekommen. Das ist die These, die hinter dem einwöchigen Festival "Former West im Berliner Haus der Kulturen der Welt steckt und Diskussionen, Workshops und Ausstellungen anbietet.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    Auf dem Former West Festival soll nicht weniger als die Vergangenheit neu gedacht und die Zukunft neu entworfen werfen. Der Gegensatz Ost-West, Kommunismus-Kapitalismus existiert nicht mehr, weder als Glücksversprechen noch als Orientierungssystem der eigenen Anschauung. Wie hat dieser Umstand Kunst und Denken und deren politische und gesellschaftliche Auswirkungen verändert, inwiefern ist Kunst im post-ideologischen Zeitalter überhaupt noch gesellschaftsrelevant? Boris Groys, russischstämmiger Kunst- und Medientheoretiker aus New York, münzte in seinem Eröffnungsvortrag das geografische Ost-West Paradigma um in ein technologisches: wie hat das Internet die Kunstproduktion in zwei Jahrzehnten verändert?

    Boris Groys:
    "Als Künstler ist es nicht mehr notwendig, fertige Produkte zu präsentieren, Kunstwerke zu erschaffen. Die Dokumentation des Schaffensprozesses gilt bereits als das Kunstwerk. Kunstproduktion, Präsentation und Distribution fallen heute ineinander. Der Künstler ist ein Blogger, das gleiche gilt übrigens auch für Museen und Kunst Institutionen. Wenn sie heute Kunst erleben wollen, müssen sie einfach zu einem Follower im Internet werden. Ai Weiwei ist hierfür paradigmatisch: er tritt vor allem als Blogger auf."

    Honoré de Balzacs Romanfigur Nicolas Poussin, der Künstler der sein Meisterwerk einfach nicht vollenden kann, auch er hätte heute sicher einen Blog, auf dem er sein Scheitern ausstellt. Museumsarbeit, so Boris Groys, gleiche heute denn auch mehr dem hektischen Versuch, der rasenden Kunstproduktion mit "Events" und temporären Ausstellungen hinterherzukommen. Seit dem vermeintlichen Siegeszug der kapitalistischen Demokratie ist aber noch mehr passiert: der aus Kroatien stammende Philosoph und Kulturwissenschaftler Boris Buden kuratierte für das Festival die Rubrik "Learning places", in der sich über 180 Kunststudenten aus aller Welt in einer Vielzahl von Workshops folgender Frage widmen:

    Boris Buden:
    "Welcher Platz ist ein "Lern-Platz"? Ist es notwendiger Weise eine Universität, eine Schule, ein Akademie? Oder ist es die Straße, ist es ein Café, eine Auseinandersetzung mit den Freunden und Kollegen? Wir haben versucht, die Idee, dass die Institutionen der Wissensindustrie die einzigen authentischen Plätze der Wissensproduktion sind, infrage zu stellen. Was für ein Wissen wird da vermittelt? Wer vermittelt das Wissen, wer besitzt das Wissen in den sogenannten Wissensgesellschaften?"

    Die Wissenskompetenz, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs natürlich dem Westen zugesprochen wurde, soll hier neu verteilt werden. Der Westen, so der Tenor, hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine goldenen Versprechen nicht gehalten.

    Kathrin Rhomberg:
    "Wir sind ja so stolz im Westen, dass wir so eine großartige Infrastruktur haben. Wir haben wunderbar Museen. Wir sehen aber jetzt zunehmend in der Entwicklung der letzten 20 Jahren, dass diese Infrastrukturen den Herausforderungen einer globalisierten Welt nicht mehr entsprechen. Und wir haben uns in den kulturellen Institutionen ein unglaubliches Regelwerk über die letzten Jahrzehnte zugelegt, die ein neues Denken, oder auch ein Vergessen, nicht zulassen, weil wir derartig beschäftigt sind damit, diese Regelwerk aufrechtzuerhalten."

    So die Kuratorin Kathrin Rhomberger. Eine Idee, wie es nach dem viel zitierten "Kollaps der Post-Moderne" weitergehen könnte, ist auf dem Festival wohl nicht zu erwarten. Im Foyer des HKW kann man sich vielleicht noch am griffigsten ein Bild des zeitgenössischen Kunstbegriffs machen: neben einem Nachbau von Christoph Schlingensiefs Installation "Ausländer raus", einem Container, aus dem die Österreicher im Jahr 2000 illegale Einwanderer per Telefonabstimmung abschieben konnten, sieht man ein Kunstwerk der Mexikanerin Teresa Margolis. Die Künstlerin bat Einwohner der von Drogenkriegen gebeutelten Regionen ihres Landes, T-Shirts über einen langen Zeitraum zu tragen und nicht zu waschen. Mit den Stoffen trug Margolis dann das Gemisch aus Hautpartikeln, Schweiß und Blut auf die Glasfronten des HKW auf. So werde der Blick des Besuchers in die Natur verstellt, erklärt die Kuratorin Kathrin Rhomberg. Unversehens wird so das Haus der Kulturen der Welt zugleich selbst zum Beweis, wie die Kunstszene im post-ideologischen Zeitalter mehr denn je nach geeigneten Ausdrucks- und Interventionsformen sucht.