Von der ersten Euphorie Adornos über das eifrige Interesse der deutschen Nachkriegsstudenten an seiner Theorie, bis hin zu seiner Verzweiflung über die zunehmende Gewaltsamkeit der eigenen Schüler in den sechziger Jahren spannt sich eine dramatische Entwicklung, die - mitsamt ihrer Vor- und Nachgeschichte - in den drei von Kraushaar herausgegebenen Bänden minutiös dokumentiert wird. Eine sehr sorgfältig ausgearbeitete Studie, die eine Lücke in der Forschung füllt.
"Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail". Dieser Untertitel der Trilogie bezeichnet die tragische Wirkungsgeschichte der kritischen Theorie. Die Nazis degradierten sie zur Flaschenpost, die 68er wollten Adornos Theorie mit "Molotowcocktails" verwirklichen, ein Anliegen, das der praktischen Unverwertbarkeit der Kritischen Theorie widersprach. Obwohl Adorno in vielen Punkten – z.B. im Kampf gegen die Notstandsgesetze – mit den Studenten sympathisierte, wollte er die Kritische Theorie nicht auf die Ebene eines Kampfinstruments herabgewürdigt sehen. Aus Wut über den Mangel an Solidarität ihres Lehrers besetzten die eigenen Schüler 1968 Adornos Institut. "Während sich der Konflikt um die Besetzung des soziologischen Seminars und die polizeiliche Räumung des Instituts auf seinen Höhepunkt zu bewegt, korrespondieren Adorno und Marcuse einmal wöchentlich über die Verlaufsform der Studentenrevolten in Frankfurt und in Berkeley. Durch diese im Strudel der Ereignisse verfaßten Briefe läßt sich Einblick in ein regelrechtes Drama gewinnen, das sich in jenen Wochen und Monaten abgespielt hat. Beide diskutieren angesichts von Go-Ins, von Vorlesungsstörungen, von verschiedenen polizeilichen und gerichtlichen Auseinandersetzungen - wie sie sich als Exilanten in den 30er und 40er Jahren verhalten haben, und was sie hätten anders machen können angesichts des sich herausschälenden Wissens über den Holocaust, anders, als ihre theoretischen Projekte weiterzuverfolgen. Adorno und Marcuse können sich nicht einigen. Und ihr Disput hält solange an, bis er durch den damals völlig überraschenden Tod Adornos abgebrochen wird."
Wer Frankfurter Schule und 68er in ihren gegenseitigen Bezügen und Verstrickungen tiefergehend verstehen will, findet in dieser Chronik eine wahre Fundgrube an dokumentiertem Archivmaterial, an Briefen, Zeitungsartikeln, Pamphleten und sonstigen historischen Materialien. Die Dokumentation verengt sich nicht auf die Zeit um 68, sondern beginnt bereits mit dem Jahr 1946 und endet beim Redaktionsschluß 1995.
Der erste Band beinhaltet eine ausführliche, mit vielen Fotos versehene Chronik der Ereignisse. Im umfangreichen zweiten Band werden die originalen, zum großen Teil bisher unveröffentlichten Dokumente erstmals auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der dritte Band beschließt die Chronik mit ausführlichen Registern und siebzehn verschiedenen Aufsätzen von prominenten Zeitzeugen der 68er. Bei diesen Artikeln handelt es sich um den Versuch, die Dialektik von Frankfurter Schule und Studentenbewegung auch in ihrer aktuellen Bedeutung zu dechiffrieren. Prägende Gestalten der Studentenbewegung – wie z.B. der 1971 bei einem Autounfall ums Leben gekommene Hans Jürgen Krahl – werden kritisch beleuchtet. Das ehemalige SDS-Vorstandsmitglied Mona Steffen analysiert Bezüge zwischen dem Weiberrat des SDS und der später von Alice Schwarzer angestifteten Frauenbewegung. Der Psychoanalytiker Helmut Reiche erinnert an den Mythos der "sexuellen Revolution". Ein Gespräch mit Oskar Negt, dem einstigen Assistenten Adornos und heutigen Soziologen an der Universität Hannover, vermittelt Anstöße für eine neue Theoriebildung der in die Defensive geratenen Linken. Schließlich macht sich der 1993 verstorbene Anstifter zum "Ungehorsam", Ulrich Sonnemann, Gedanken über die ödipalen Verstrickungen der 68er: Während die eigenen Väter und die meisten damaligen Professoren als Kollaborateure der Nazis entlarvt wurden, knüpfte sich alle Hoffnung der Studenten auf heimkehrende Emigranten wie Adorno und Horkheimer, deren Immunität und Widerständigkeit gegen die nationalsozialistische Tyrannei fraglos gegeben war. Aber auch gegenüber diesen selbst gewählten Autoritäten hatten die 68er ein gebrochenes Verhältnis, so die Meinung von Adornoschüler Detlev Claussen, der heute an der Universität Hannover Soziologie lehrt: "Sicher hat einer der Gründe, warum nicht nur Adorno, sondern auch Horkheimer und auch Herbert Marcuse in Deutschland so spezifisch gewirkt haben, etwas zu tun mit der Vätergeneration in Deutschland, die im Nationalsozialismus ihre entscheidenden Jahre gehabt hatte. Und das ist auch ganz klar, daß sich da ein Zusammenbruch von Autorität abgezeichnet hat, je mehr man mit den Realitäten konfrontiert wurde. Jeder, der sich ein bißchen mit kritischer Theorie beschäftigt hat, weiß, daß Autorität ein zentrales Thema der Kritischen Theorie ist – schon in den dreißiger Jahren. Autorität und Familie war eine große Studie in den USA von Adorno, Horkheimer und Marcuse. Das sind nicht allein theoretische Konstruktionen, sondern es sind auch persönliche Erfahrungen, daß diese drei, Adorno, Horkheimer, Marcuse, auf unterschiedliche Weise als Autoritäten aufgetreten sind und auftreten konnten, und zwar als Autoritäten, die man sehr gut akzeptieren konnte. Das mußte natürlich in einem Spannungsverhältnis stehen zu einer politischen Bewegung, die sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre als antiautoritär verstand."
Neben Rudi Dutschke und Dieter Kunzelmann gehörte der heutige Berliner Professor für Soziologie, Bernd Rabehl, zu den prägenden Gestalten der damaligen Studentenbewegung. In seinem Beitrag zur Chronik beschreibt er die "archaische Inszenierung linksradikaler Politik" nach 1967. Während sich Adorno mit der kritischen Analyse der bestehenden Verhältnisse begnügte und sich skeptisch verhielt gegen jeden Wunsch nach einer sogenannten positiven gesellschaftlichen Veränderung, drängten die Studenten spontan und ungeduldig nach radikalen Aktionen. Detlev Claussen dazu: "Wir kamen aus der subversiven Aktion. Die subversive Aktion kam aus der Künstlerperspektive mit dem Aufruf, daß nach den beiden Diktaturen – der stalinistischen Diktatur und der nationalsozialistischen Diktatur - alle Theorie, alle Kategorien, alle Begriffe kaputt sind. Wir müssen Theorien neu entwickeln. Es hat keinen Sinn, das 19. Jahrhundert nochmal neu entstehen zu lassen. Diese Begriffe sind nicht in der Lage, Realität abzubilden. Von daher wollen wir über Aktionen und Provokationen die Verhältnisse tanzen lassen, um aus diesen Verhältnissen eine neue Theorie zu entwickeln. Dementsprechend hatten wir auch zu den Klassikern ein Verhältnis. Das heißt: ‘Dialektik der Aufklärung’ wurde an einem Nachmittag gelesen - feuilletonistisch. Und Kunzelmann entschied: ‘Da steht nichts drin. Das ist uninteressant.’"
Solch pauschale Abwertung seiner Gedanken mußte auf Adorno natürlich kränkend wirken. Sie bestätigte ihn in seiner Auffassung, daß die studentischen Rebellen mehrheitlich einem blinden Aktionismus verfallen waren, der die Anstrengung des Begriffs durch einen formelhaften Jargon ersetzte und ansonsten nur auf das provokative Happening setzte. Adornos damaliger Assistent Jürgen Habermas hatte 1967 die Studentenführer vor einem Abgleiten in einen "linken Faschismus" gewarnt. Neben den heftigen Reaktionen der Studenten dokumentiert der zweite Band der Chronik auch mehrere Reden, Artikel und Briefe von Habermas, in denen er seine Warnung präzisierte: "Wenn ich Provokation in diesem Sinn verstehen darf, dann heißt systematisch betriebene Provokation von Studenten ein Spiel mit dem Terror, mit faschistischen Implikationen."
Inexplizit solidarisierte sich Adorno mit dieser Einschätzung seines Assistenten, wenn er auch seiner eigenen Kritik keinen so krassen Ausdruck gab. Rudi Dutschke fühlte sich persönlich angegriffen: "Habermas will nicht begreifen, daß allein sorgfältige Aktionen Tote sowohl für die Gegenwart als auch noch mehr für die Zukunft vermeiden können."
"Es ging die Diskussion über Linksfaschismus", so Claussen. "Habermas hatte das schon vorgetragen in Hannover. Und keiner von uns wußte, was das eigentlich ist, Linksfaschismus. Wir hörten auch, daß Adorno dieser Theorie anhängen würde. Und wir haben keinerlei Ehrfurcht gehabt. Wir haben ihn sofort überfallen mit der Frage: ‘Was ist denn nun Linksfaschismus, Herr Adorno? Wie können Sie zu uns sagen, daß wir Linksfaschisten sind? Sowas hat es in Deutschland überhaupt nicht gegeben. Und wieso sind wir als Junghegelianer, als Stirnerianer oder als Aktionisten Linksfaschisten?’ Ich muß sagen, Adorno hat keine Antwort gewußt. Wir haben ihn sofort bedrängt, wir haben keine höfliche Runde mit ihm gemacht. Es fehlte die vornehme Diskussion, die akademische Diskussion. Adorno guckte mich an und sagte: ‘Sie sind der Dutschke!’ Ich sage: ‘Nein, in Berlin haben wir wenigstens zwanzig Dutschkes. Ich bin einer von denen.’"
Die Studenten warfen Adorno vor, daß er sich im Elfenbeinturm seiner kritischen Theorie verschanzen würde, statt seine theoretische Subversivität auch in der Praxis einzulösen. Adorno seinerseits hielt Dutschkes Aktionismus für politisch "naiv", von der Universität aus die Gesellschaft mit Molotowcocktails verändern zu wollen. Darin sah er nicht nur keine Umsetzung seiner politischen Theorie in die Praxis, sondern ihre Verkehrung: "Ich müßte mein ganzes Leben verleugnen – die Erfahrungen mit Hitler und was ich am Stalinismus beobachtet habe – wenn ich dem ewigen Zirkel von Gewalt und Gegengewalt mich nicht verweigern würde. Denken, als bloßes Instrument von Aktionen, stumpft ab wie die instrumentelle Vernunft insgesamt. Erleichtert wird das dem Einzelnen durch seine Kapitulation vor dem Kollektiv, mit dem er sich identifiziert. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen."
Von solcher "universaler Unterdrückungstendenz" sah Adorno auch die außerparlamentarische Opposition der 68er infiziert. Von den Studenten fühlte er sich unter Druck gesetzt. Sie wollten ihn in seiner Stellung als international bekannter Hochschullehrer zur monotonen Beschwörung dauerhafter Solidaritätserklärungen verdinglichen. Detlev Claussen: "Man wollte von Adorno eine Legitimation. Man wollte ein Placet einer akzeptierten Autorität für das, was man als Tabubruch empfand, was man in der eigenen Praxis gemacht hat."
Als Adorno es ablehnte, sich in dieser Weise funktionalisieren zu lassen, reagierten die eigenen Schüler verärgert und besetzten im Dezember 68 sein Institut. Diese Besetzung bewertete Adorno als Terror. Assoziationen an die von den Nationalsozialisten verübten Repressionen, die der Begründer der Frankfurter Schule selber erfahren hatte, stellten sich unmittelbar ein. Indem die Studenten sein Institut besetzten, bedienten sie sich - bewußt oder unbewußt - derselben Methoden wie die Nazis, auf deren Druck hin 1933 das Institut geschlossen werden mußte. Claussen erläutert: "Es ist die Wahrnehmung von Ausschwitz , die damals von den Studenten nicht in dieser Schwerkraft und Tiefe begriffen worden ist, welche Rolle das für Horkheimer und Adorno und Marcuse gespielt hat, weil man das Ausmaß der Ereignisse nicht begriffen hat. Das, glaube ich, erzeugte auch viel von der Spannung, daß man gesellschaftliche Realität als Nazismus, Faschismus, etwas, das mit der Gegenwart zu tun hatte, begriff. Es ging um das Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart. Das war das brennendste Thema überhaupt, und wie das zu begreifen sei. Und da kann ich für die studentische Generation sagen, daß da vieles nicht begriffen worden ist, und es deswegen auch ein starkes Aneinandervorbeireden gegeben hat."
Das Agitieren um jeden Preis, auch um den Preis einer gewaltsamen Zerschlagung der repräsentativen Demokratie, entlarvte Adorno als Besessenheit. Die von Kraushaar herausgegebene Chronik enthält auch den bisher unveröffentlichten letzten Brief Adornos an Marcuse. Der Studentenbewegung - schrieb Adorno resignierend – sei "ein Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt." Einen Tag später erlag der Begründer der Frankfurter Schule einem Herzinfarkt. Der Herausgeber Wolfgang Kraushaar erklärt: "Dieser Schock, daß mit Adorno die theoretisch dominierende Gestalt aus einem zwar konfliktreichen, aber dennoch produktiven Zusammenhang herausgerissen wird, hat einen Schatten auf alles, was dann noch folgen sollte, geworfen. Die Frankfurter Revolte hat keine Traditionen im engeren Sinne gestiftet. Sie hat eher Traumata bei den daran Beteiligten hinterlassen. Nach Adornos Tod im August 69 kommt H. J. Krahl, der unumstrittene Sprecher des SDS, bei einem Autounfall ums Leben. 1971 geht Otto Negt mit seinen engsten Schülern nach Hannover. Und 1972 verläßt auch Habermas, nachdem er einen Ruf an das Starnberger Institut erhalten hat, die Goethe Universität. Das, was in Frankfurt geschehen ist, diese ganze zum Zerreissen angespannte Szenerie, Theorie, Politik, persönlichen Beziehungen flogen damals wie in einer lang gedehnten Zeitlupe auseinander. Überall lagen in den siebziger Jahren noch Partikel dieser Explosion herum, doch nichts, gar nichts mehr wollte sich so recht noch fügen. Keiner der damaligen an dem Konflikt Beteiligten ist jemals recht fertig geworden mit diesem Stück traumatisierter Biographie."