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Kritischer Blick auf die Institution Familie

In knapp zwei Wochen finden in Frankreich die Präsidentschaftswahlen statt. Und nicht zuletzt dadurch, dass sich mit Segolène Royal eine Frau um das höchste Amt im Staate bewirbt, steht das Thema Familie in der öffentlichen Debatte hoch im Kurs. Die Debatte wird nicht allein in Fernseh-Talkshows geführt, sondern auch auf den Theaterbühnen aufgegriffen.

Von Ute Nyssen |
    Von der "Familie als Keimzelle der Gesellschaft" sprechen ja betulich gern Wahlprogramme, und entsprechend tönen auch die in Frankreich jetzt vor der Wahl des Staatspräsidenten. Die harmonische Idylle allerdings, die als Fetisch in den Wahlparolen ihr Leben fristet, unterscheidet sich krass von deren realistischer Darstellung. Mit zwei aktuellen Theaterstücken setzten sich soeben, höchst kritisch, die Pariser Bühnen mit der Institution Familie auseinander, mit "La Festa" im Théâtre du Vieux Colombier und mit "Cet Enfant" im Théâtre des Bouffes du nord. Beide Aufführungen fanden beim Publikum große Zustimmung.

    "La Festa", "Das Fest", stammt von dem 43-jährigen Spiro Scimone, einem mehrfach preisgekrönten sizilianischen Autor. Es beginnt an einem Tag wie jeder andere, trostlos nämlich, nur ist heute der 30. Hochzeitstag. Vater und Mutter, in Unterwäsche, tauschen liebenswürdig ihre Bosheiten aus und warten auf den Sohn. Wie so oft kam er spät nach Hause, in neuer weiblicher Begleitung weiß die Mutter hämisch zu berichten. Das familiäre Zusammenleben trägt hier archetypische Züge: Demütigung der Frau in ihrer ökonomischen Abhängigkeit, weiblicher Triumph angesichts des ehemännlichen Verfalls, Eifersüchteleien zwischen Vater und Sohn und am Ende Wegspülen der Resignation mit einer Flasche Sekt.

    Das Leben dieser Kleinfamilie entspricht dem auswegloser gesellschaftlicher Stagnation - nicht unbedingt nur in Sizilien. Scimone, und damit erweist er sich als souveräner Dramatiker, bleibt dabei immer auf der Seite der einzelnen Figur. Der bulgarische Regisseur Galin Stoev arbeitete die Gruppenrituale ohne jede Karikatur der Eitelkeiten heraus, mit Sehnsuchtsposen beim Mitsingen eines italienischen Schlagers, mit dem Ausdruck körperlicher Schlappheit, so präzise, dass die Abläufe alltäglicher Routine eine schmerzhafte Komik annahmen. Die Schauspieler der Comédie Française taten das Ihre dazu mit ihrer wunderbar nuancierenden Sprache; mit einer winzigen Distanz gegenüber der Figur, deren familiäre Verletztheit sich umso eindringlicher ausdrückte, als sie fast elegant vorgetragen wurde: ein großer Abend französischer Schauspielkunst.

    "Cet Enfant", "Dieses Kind", schrieb und inszenierte Joel Pommerat, auch er 43 Jahre alt. Pommerats Rang, und der seiner französischen Truppe lässt sich daran ablesen, dass soeben eine dreijährige Zusammenarbeit mit dem Théâtre des Bouffes du nord und dessen Hausherrn Peter Brook vereinbart wurde. Ausgangspunkt seines Stücks sind ausführliche Gespräche, vor allem mit Müttern, aber Pommerat hat das dokumentarische Material in eine verdichtende Theatersprache umgesetzt. Im Hintergrund der leeren Bühne lässt er eine kleine Musikband spielen, nur als Schatten wie hinter Milchglas erkennbar. Die eher anspruchslose Musik schafft so etwas wie einen spannungsfreien Lebensraum, so wie ihn auch politische Schlagworte entwerfen. Die leibhaftigen Menschen auf der Bühne jedoch können bei Pommerat in diesen Raum nicht eindringen. Grell beleuchtet wie Schwarz-Weiß-Fotos zeichnet er in zehn Szenen mit wenigen Strichen seine Figuren nur unter dem Aspekt des Eltern- Kind-Verhältnisses: So gibt beispielsweise eine junge Mutter ihren Säugling einfach an Nachbarn weg, er stört sie nur; eine Schwangere will das Kind ausschließlich, um ihrer Mutter zu imponieren. Das wird mein Kind, schreit sie, es wird stolz auf mich sein, und damit bringt sie die Bilanz der bitteren Konfrontationen auf den Nenner: Eltern betrachten Kinder als ihr Eigentum, das sie bewusst oder unbewusst ganz nach ihrem Bilde formen wollen. Der einzelne Mensch kann seine Revolte gegen den scheinbar schicksalhaften familiären Zwang nur als blinden Egoismus gegenüber den eigenen Kindern reproduzieren.

    Den Schauspielern gelang es, auf eine ganz untheatralische und dennoch körperlich hochgespannte Weise, vor allem Nachdenklichkeit und Bescheidenheit zu vermitteln, womit auch diese Bestandsaufnahme zum Thema "Familie" eine nüchterne Authentizität gewann, die keinerlei konservative Parolen wegwischen können.