Die kroatische Regierung ist bemüht, Kroatien als demokratischen und als Rechtsstaat zu festigen.
Seit anderthalb Jahren, genau seit dem 3. Januar 2000, steht Racan der Šestorka vor, der Sechser-Koalition aus seinen Sozialdemokraten, den Sozialliberalen und vier kleinen Traditions- und Regionalparteien. Sie hatte damals der rechtsautoritären Bewegung Kroatische Demokratische Union (HDZ) des kurz zuvor verstorbenen Präsidenten Franjo Tudjman eine erdrutschartige Wahlniederlage bereitet. Was sich die neuen Machthaber damals vorgenommen hatten und guten Mutes angingen, erläuterte Racans Stellvertreterin Mirjana Feric-Vac:
Unsere Hauptaufgabe wird die Wirtschaft des Landes sein - seine innere Entwicklung, die internationale Hilfe braucht, wie andere Länder sie bekamen. Wir haben es klar gesagt: Unsere Ziele sind europäische Integration, NATO-Beitritt und dann EU-Mitgliedschaft.
Auf diesem Wege sind die Kroaten doch offenkundig gut voran gekommen. Schon im Vorjahr konnten sie der Partnerschaft für den Frieden beitreten, also im NATO-Vorzimmer Platz nehmen. Und Mitte Mai schlossen sie mit der EU ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, das sie binnen sechs, höchstens sieben Jahren als Vollmitglieder in die EU bringen soll. Bis dahin gibt es aus dem CARD-Programm Dutzende Euro-Millionen, damit Kroatien auch die für den Beitritt nötigen Systemveränderungen und Rechtsangleichungen erfolgreich erledigen kann. Die momentane Selbstsicherheit Kroatiens scheint demnach berechtigt.
Sie scheint es, aber sie ist es nicht. Die Selbstsicherheit mutet eher wie ein Selbstbetrug derer an, die glauben, nach einem Machtwechsel an der Spitze alte und unreformierte Strukturen bruchlos fortsetzen zu können. So rügt es der junge Wirtschaftswissenschaftler Velimir Srica, dem in den USA eine glänzende Karriere offen stand. Er kam nach Hause zurück und berichtete unlängst, was er erleben musste:
Wer bei uns in eine politische Funktion gelangt, hält sich für einen Alleskönner, der nicht mehr lernen muss und keinen Umgang mit Experten benötigt. Wie Sie wissen, gehörte ich vor den Wahlen im Januar letzten Jahres zum Beirat der Sozialdemokratie. Damals sagte ich: Wenn ihr diese Wahlen gewinnt, dann habt ihr eine historische Chance: Die Politik soll die Ereignisse nur kontrollieren, Richtlinien geben und sich als Expertenregierung konstituieren. In der müssen die besten Fachleute aus Kroatien sitzen. Leider kenne ich die Gründe, warum daraus nichts wurde: Man musste vor allem die versorgen, die Politik betreiben und von der Politik ihre Karriere erwarten. Denn außerhalb der Politik gibt es bei uns ja kaum einen Weg, in gewisse Positionen zu gelangen.
Ist also Politik in Kroatien nach wie vor ein Drängen zu staatlichen Futterkrippen? Ohne Interesse an dringenden Reformen, die das Land und seine 4,7 Millionen Einwohner vorwärts bringen? Das kann's ja wohl nicht sein, schließlich haben die Sieger vom Januar 2000 auch bei den Kommunalwahlen Ende Mai 2001 ganz souverän dagestanden.
Ja und nein! Erstens war die Wahlbeteiligung mit 45 Prozent sehr niedrig. Zweitens haben nicht alle Parteien der Šestorka am generellen Erfolg gleichmäßig partizipiert: Die ehedem zweitstärksten Sozialliberalen mussten vor der Fünf-Prozent-Hürde zittern. Die bisherige Koalitionszwerge wie die Volkspartei von Präsident Mesic und die Istrische Demokratische Union von Europa-Minister Ivan Jakovcic schafften dagegen die Hürde ganz locker. Und drittens haben die Nationalisten der Tudjman-HDZ, Wahlsieger in 14 von 21 Provinzen, zu neuer Kraft gefunden, wie Ivo Sanader, einer ihrer Führer, erkennen ließ:
Es gibt keinen Zweifel, dass die HDZ bei diesen Wahlen ihren größten Sieg errang, was erneut bestätigt, dass wir die erste und stärkste Partei in Kroatien sind. Wir stehen unverrückbar auf der Position eines kroatischen Beitritts zu euro-atlantischen Integrationen, wir sind also eine ganz moderne HDZ, die zwar den Tudjman-Ideen folgt, wenn von der Verteidigung kroatischer nationaler Interessen die Rede ist, aber auch eine HDZ, die für alle Anforderungen eines modernen Kroatiens offen ist.
Das klingt doch gut. Ein Kroatien, eingebunden in euro-atlantische Strukturen, wie es mit dem jüngsten EU-Abkommen unvermeidlich ist, kann ja kaum den aggressiven Nationalismus der Tudjman-Ära fortsetzen. Zumal sich, wie eben gehört, sogar die Tudjman-Erben in der HDZ von diesem lossagen.
Schön wär's - aber bislang war es nicht so. Die HDZ ist keinen Deut "europäischer" geworden, dafür hat sich die Racan-Koalition gewissermaßen der HDZ-"Philosophie" angenähert: "Europa ja, Balkan nein" war ihre Leitlinie bei den gerade abgeschlossenen Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen. Damit ging sie den Brüsseler Eurokraten gewaltig auf die Nerven, konnte sich aber letztlich mit dieser Position nicht durchsetzen.
Das kroatische Beharren auf individuellem Zugang zur EU-Integration mag von Ferne wie eine verständliche Abneigung gegen die Gleichstellung mit Ländern wie Serbien und anderen anmuten, ist tatsächlich aber nur Ausdruck kroatischer Arroganz gegenüber balkanischen Nachbarn. Und es ist letztlich eine Verweigerung gegenüber europäischen Intentionen für südosteuropäische Integration. Bodo Hombach, EU-Beauftragter für den Stabilitätspakt für Südost-Europa, kennt seine Zagreber Pappenheimer und deren Geistesverwandte in anderen Balkan-Regionen:
Ja, da muss man aufpassen, dass sich nicht das Missverständnis einschleicht, und leider hat der eine oder andere Politiker nicht nur in Kroatien in den letzten Monaten dieses Missverständnis auch formuliert, dass Gemeinsamkeit quasi auch integrationsschädlich ist, dass der Stabilitätspakt eine Art Warteraum für die EU wäre, gar diesen Prozess der Integration verzögert. Als wir merkten, dass es solche Missverständnisse gibt, haben wir selber darauf gedrungen, dass ganz deutlich auch für den letzten, damit er es versteht, festgehalten wird, dass regionale Kooperation und Integration die Voraussetzung zur EU-Integration ist.
Wenn das alles ist, was Kroatiens europäischer Zukunft im Wege steht, der Minderwertigkeitskomplex eines kleinen Balkan-Landes oder sein balkanischer Selbsthass, dann sollte es angesichts der schweren Hausaufgaben, die Brüssel Zagreb mit vielen Details im umfangreichen Vertragstext auferlegt hat, bald verfliegen. Ist es denn alles?
Keineswegs! Vielmehr fehlen in Kroatien die Voraussetzungen für eine EU-Integration - beginnend mit dem fehlenden Wissen, was man eigentlich begonnen hat und erreichen will. Weil das so ist, kann Kroatiens EU-Wunsch, sollte er jemals erfüllt werden, nur damit enden, dass das Land Anhängsel eines anderen wird, das weiß, was es will. So schwarz erscheint dem unabhängigen Wirtschaftsanalytiker Branimir Lokin die Zukunft Kroatiens:
Im Grunde kommen wir über einen Globalisierungsprozess in die Europäische Union. Darum ist es so wichtig, eine eigene Strategie zu haben, anderenfalls wird man Figur fremder Strategien. Bei uns gibt es keine Strategie, keine richtungsweisenden Entscheidungen, der Staat verhält sich unter den gegebenen Umständen inadäquat und wirkungslos.
Also stand wenig oder nichts hinter den ungezählten Zagreber Bekenntnissen zu Europa? Das Interesse an Europa jedenfalls ist nicht sehr groß. Eine exklusiv für Abgeordnete organisierte Präsentation des Integrationsprozesses Kroatiens in die EU lockte gerade zwanzig von ihnen an - was der zuständige Minister Jakovcic als erwartungsgemäß und gar nicht schlecht bezeichnete. Offenkundig hat seine Stellvertreterin Mirjana Mladineo, die die eigentliche "Seele" der kroatischen EU-Inte-gration ist, recht, wenn sie seufzt:
In Kroatien besteht noch kein Bewusstsein dessen, wie umfassend und tiefgehend die Reformen des gesamten Systems sein werden, um es in Einklang mit dem EU-System zu bringen.
Bei den Politikern nicht. Aber was ist mit den Menschen, die doch - wie andere Osteuropäer auch - die Perspektive der EU-Integration mit der Verheißung von Wohlstand und Freizügigkeit gleichsetzen?
Nur knapp 30 Prozent erwarten noch eine Besserung ihrer Lebensumstände, die Rate der unbedingten EU-Befürworter sank von 88 Prozent im März 1998 auf 68 Prozent im Mai 2001, und nur noch 51 Prozent meinen, dass Kroatien auf einen EU-Bei-tritt vorbereitet sei. Die Menschen in Kroatien, scheint's, sind realistischer als die Politiker.
Die Medien offenkundig auch. In ihren letzten Ausgaben haben die Zagreber Nachrichtenmagazine "Globus" und "Nacional", die sich normalerweise spinnefeind sind, übereinstimmend zehn Gründe aufgezählt, wegen derer Kroatien nicht in die EU kann. Es sind vor allem ökonomische Gründe, die sich wie eine Bestätigung des Verdikts ausnehmen, das der vor einigen Monaten verstorbene charismatische Oppositionelle Vlado Gotovac bei den Wahlen im Januar 2000 äußerte:
Kroatien steckt in einer tiefen Krise. Um aus ihr herauszukommen, bedarf es eines gesamtnationalen Kompromisses.
Statt des gesamtnationalen Kompromisses ist ein allkroatischer Verlust zu verzeichnen, den Experte Branimir Lokin so umreißt:
Kroatien hat in einer langen und fortdauernden Krise eine ganze Generation verloren. Wir haben sie als eine Energie in der Gesellschaft verloren, denn jetzt haben wir sehr viele Leute, die wir nicht mehr beschäftigen und noch nicht in Rente schicken können.
Und das im einstigen Boom-Land in Tito-Jugoslawien, das mit Schiffbau und Adria-Tourismus Milliarden einstrich. Kann al-te Herrlichkeit wenigstens in Ansätzen zurückkehren, wenn neue Investoren eine alte Infrastruktur wiederbeleben?
Nein - meinen kompetente Kritiker. Und zwar aus drei Gründen: Erstens schreckt der bürokratische Staat potenzielle Investoren ab - anderthalb Jahre vergehen, bis man die nötigen Dokumente für irgendeine Neugründung beisammen hat, wobei man immer noch keine Rechtssicherheit besitzt, etwaige Gewinne ins Ausland transferieren zu können.
Zweitens will niemand in Kroatien investieren: Im März und April bot Kroatien in Londoner Zeitungen 21 Hotelkomplexe an attraktivsten Plätzen seiner Adria-Küste zum Verkauf an. Niemand zeigte dafür Interesse.
Und drittens sind die kroatischen Manager, staatliche wie private, durch die Bank Distributoren einer spezifischen Fremdenfeindlichkeit: Da ihre Produkte in Preis und Qualität nicht einmal mehr in Osteuropa konkurrenzfähig sind, geschweige denn im Westen, sind sie strikt gegen ausländische Mitbewerber um kroatisches Familien-Silber, wie es in Pressekommentaren poetisch heißt. Natürlich wird diese Obstruktion mit nationalökonomischer Besorgnis bemäntelt, wie Ende Mai ein Brief der führenden Manager an Wirtschaftsminister Goran Fizulic bezeugte. Zum Inhalt sagte Želimir Vukina, einer der Absender:
Wer den Brief gelesen hat und guten Willens ist, sieht, dass es hier nicht um den Schutz der heimischen Industrie geht, auch nicht um die Suche nach Sonderrechten und Privilegien, sondern allein darum, dass es eine kroatische Industrie gibt, die sich entwickelt und sich unter gleichen Bedingungen mit der Konkurrenz auf diesen Märkten und darüber hinaus messen möchte.
Das klingt doch vernünftig: Jeder Staat muss zunächst die eigenen Fabrikanten und ihre Arbeiter berücksichtigen, weil eigene Arbeitslose schwerlich fremde Waren kaufen können.
Völlig richtig, aber im Falle Kroatiens geht es um den Schutz eines unreformierten Wirtschaftssystems und reformunwilliger Politiker, von denen der Kroatische Arbeitgeberverband unlängst ultimativ eine Mitbeteiligung in der Wirtschaftspolitik forderte: Der Staatsanteil an der Wirtschaft ist nach wie vor erdrückend, die nationale Währung Kuna ist zu mindestens 30 Prozent überbewertet. 40 Prozent des gesamten Wirtschaftslebens wickeln sich im Bereich der Schwarzarbeit ab - Kroatiens Wirtschaft und Politik sind am Boden. Eine der Ursachen dafür sieht der Ökonom Velimir Srica in der unzureichenden Bildung:
In Kroatien haben zwischen 6 und 7 Prozent der Menschen eine Hochschulausbildung. Der Durchschnittskroate hat nicht einmal Mittelschulbildung, er ist relativ ungebildet. Da verwundern nicht die Wahlergebnisse, nicht die Tiefe der Krise, nicht unsere aktuellen Probleme der Perspektivlosigkeit.
Junge Kroaten gehen acht Jahre zur Grundschule, vier zur Oberschule, weitere vier - wenn sie die Prüfungshürden schaf-fen - zur Universität und noch zwei in die Post-Diplomstu-dien, die zu akademischen Würden verhelfen. Und dann?
Dann verlassen sie das Land auf Nimmerwiedersehen, wenn sie die geringste Chance wittern: 140.000 sollen in den letzten Jahren diesen Weg ohne Rückkehr gegangen sein. Dieser Exodus ent-blößt Kroatien seiner Bevölkerungsenergie, mehr noch seiner Entwicklungsenergie.
Junge Kroaten fliehen aus Kroatien, das bei allen eigenen Problemen auch noch ein paar internationale aus dem Erbe des rechtsextremen Diktators Tudjman hat. Der hatte in den Kriegsjahren Hunderttausende für seinen Domovinskirat (Heimat-Krieg) mobilisiert, von denen schon früh manche ins Visier des Haager Kriegsverbrecher-Tribunals geraten waren. Das missfiel in Kroatien, wo auch Kriegsverbrecher als Helden verehrt werden. Daraus erwuchsen Irritationen, die Michael Steiner - vormals Stellvertretender UN-Repräsentant in Bosnien, derzeit Kanzlerberater in Berlin - Ende letzten Jahres noch in lebendiger Erinnerung hatte:
Denken Sie an Kroatien, da war es anfangs sehr, sehr schwierig, die Kriegsverbrecher, die Angeklagten zu überstellen nach Den Haag. Inzwischen arbeitet Kroatien gut mit Den Haag zusammen. Das war ein Prozess, der am Anfang etwas holprig war...
... und inzwischen wieder holprig ist, da sich das Haag für kroatische Ex-Kommandanten interessiert. Die kroatische Regierung muss und wird sie ausliefern, wenn das Haag es will, denn sie kennt dessen Bedeutung als internationale Institution, der sich gerade Balkan-Staaten unterordnen müssen. Premier Racan
Wir sind uns bewusst, dass das Gericht im Haag gebildet wurde, weil die internationalen Faktoren meinen, dass bestimmte Länder, in denen Kriegsverbrechen geschahen, unfähig sind, das selber zu klären und Kriegsverbrechen, die auf ihren Territorien begangen wurden, in Prozessen zu ahnden. Die kroatische Regierung meinte und meint, dass sie dazu sehr wohl imstande ist, gewiss heute weit mehr als gestern, und wir wollen das beweisen.
Der Beweis wird schwer genug, da um Figuren wie General Mirko Norac ein politischer Konflikt entbrannt ist. Hinter ihm stehen die starken Verbände der Kriegsveteranen des Tudjman-Re-gimes. Die richteten bereits lärmende Massenversammlungen in Split und anderswo und drohten mit einem Marsch auf Zagreb. Die Rechte macht mobil. Es ist die Unzufriedenheit vieler Kroaten - mit einer neuen Regierung, die viel versprach, wenig hielt, fast nichts veränderte, aber manches verschlimmerte: Die Auslandsverschuldung Kroatiens stieg auf knapp 11 Milliarden Mark, die Binnenverschuldung auf 6 Milliarden. Die Regierung ist vorwiegend mit Kommunikationsstörungen in den eigenen Reihen beschäftigt, der Staat ist zu teuer und zu ineffizient - die Durchschnittslöhne mit über 600 Mark monatlich sind bei der maroden Wirtschaft zu hoch, zudem von wachsender Inflation bedroht.
So etwas wird von der EU, der Weltbank und weiteren internationalen Institutionen nicht übersehen. Und Kroatien muss noch viele schwere Lasten stemmen, bis es deren Anerkennung erlangt. Das neue Assoziierungsabkommen enthält Auflagen in Fülle. Kann Kroatien die im vorgesehenen Zeitraum von maximal sieben Jahren schaffen? Viele bezweifeln das. So auch der kroatische Psychiater Eduard Klain. Für ihn zeigt die gesamte kroatische Gesellschaft ernsthafte Krankheitssymptome, die zu heilen viel mehr Zeit benötigt:
Unsere Gesellschaft hat eine Chance, aber die Zeit wird lang sein. Gewiss wird eine Generation darüber vergehen, es können aber auch zehn werden, wenn man nicht bald mit Änderungen beginnt. Und dieser Regierung und allen folgenden empfehle ich, sich ernsthaft mit diesem Volk zu beschäftigen. Eine Regierung, die sich nur mit sich selber beschäftigt, könnte die nächsten Wahlen verlieren.
Seit anderthalb Jahren, genau seit dem 3. Januar 2000, steht Racan der Šestorka vor, der Sechser-Koalition aus seinen Sozialdemokraten, den Sozialliberalen und vier kleinen Traditions- und Regionalparteien. Sie hatte damals der rechtsautoritären Bewegung Kroatische Demokratische Union (HDZ) des kurz zuvor verstorbenen Präsidenten Franjo Tudjman eine erdrutschartige Wahlniederlage bereitet. Was sich die neuen Machthaber damals vorgenommen hatten und guten Mutes angingen, erläuterte Racans Stellvertreterin Mirjana Feric-Vac:
Unsere Hauptaufgabe wird die Wirtschaft des Landes sein - seine innere Entwicklung, die internationale Hilfe braucht, wie andere Länder sie bekamen. Wir haben es klar gesagt: Unsere Ziele sind europäische Integration, NATO-Beitritt und dann EU-Mitgliedschaft.
Auf diesem Wege sind die Kroaten doch offenkundig gut voran gekommen. Schon im Vorjahr konnten sie der Partnerschaft für den Frieden beitreten, also im NATO-Vorzimmer Platz nehmen. Und Mitte Mai schlossen sie mit der EU ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, das sie binnen sechs, höchstens sieben Jahren als Vollmitglieder in die EU bringen soll. Bis dahin gibt es aus dem CARD-Programm Dutzende Euro-Millionen, damit Kroatien auch die für den Beitritt nötigen Systemveränderungen und Rechtsangleichungen erfolgreich erledigen kann. Die momentane Selbstsicherheit Kroatiens scheint demnach berechtigt.
Sie scheint es, aber sie ist es nicht. Die Selbstsicherheit mutet eher wie ein Selbstbetrug derer an, die glauben, nach einem Machtwechsel an der Spitze alte und unreformierte Strukturen bruchlos fortsetzen zu können. So rügt es der junge Wirtschaftswissenschaftler Velimir Srica, dem in den USA eine glänzende Karriere offen stand. Er kam nach Hause zurück und berichtete unlängst, was er erleben musste:
Wer bei uns in eine politische Funktion gelangt, hält sich für einen Alleskönner, der nicht mehr lernen muss und keinen Umgang mit Experten benötigt. Wie Sie wissen, gehörte ich vor den Wahlen im Januar letzten Jahres zum Beirat der Sozialdemokratie. Damals sagte ich: Wenn ihr diese Wahlen gewinnt, dann habt ihr eine historische Chance: Die Politik soll die Ereignisse nur kontrollieren, Richtlinien geben und sich als Expertenregierung konstituieren. In der müssen die besten Fachleute aus Kroatien sitzen. Leider kenne ich die Gründe, warum daraus nichts wurde: Man musste vor allem die versorgen, die Politik betreiben und von der Politik ihre Karriere erwarten. Denn außerhalb der Politik gibt es bei uns ja kaum einen Weg, in gewisse Positionen zu gelangen.
Ist also Politik in Kroatien nach wie vor ein Drängen zu staatlichen Futterkrippen? Ohne Interesse an dringenden Reformen, die das Land und seine 4,7 Millionen Einwohner vorwärts bringen? Das kann's ja wohl nicht sein, schließlich haben die Sieger vom Januar 2000 auch bei den Kommunalwahlen Ende Mai 2001 ganz souverän dagestanden.
Ja und nein! Erstens war die Wahlbeteiligung mit 45 Prozent sehr niedrig. Zweitens haben nicht alle Parteien der Šestorka am generellen Erfolg gleichmäßig partizipiert: Die ehedem zweitstärksten Sozialliberalen mussten vor der Fünf-Prozent-Hürde zittern. Die bisherige Koalitionszwerge wie die Volkspartei von Präsident Mesic und die Istrische Demokratische Union von Europa-Minister Ivan Jakovcic schafften dagegen die Hürde ganz locker. Und drittens haben die Nationalisten der Tudjman-HDZ, Wahlsieger in 14 von 21 Provinzen, zu neuer Kraft gefunden, wie Ivo Sanader, einer ihrer Führer, erkennen ließ:
Es gibt keinen Zweifel, dass die HDZ bei diesen Wahlen ihren größten Sieg errang, was erneut bestätigt, dass wir die erste und stärkste Partei in Kroatien sind. Wir stehen unverrückbar auf der Position eines kroatischen Beitritts zu euro-atlantischen Integrationen, wir sind also eine ganz moderne HDZ, die zwar den Tudjman-Ideen folgt, wenn von der Verteidigung kroatischer nationaler Interessen die Rede ist, aber auch eine HDZ, die für alle Anforderungen eines modernen Kroatiens offen ist.
Das klingt doch gut. Ein Kroatien, eingebunden in euro-atlantische Strukturen, wie es mit dem jüngsten EU-Abkommen unvermeidlich ist, kann ja kaum den aggressiven Nationalismus der Tudjman-Ära fortsetzen. Zumal sich, wie eben gehört, sogar die Tudjman-Erben in der HDZ von diesem lossagen.
Schön wär's - aber bislang war es nicht so. Die HDZ ist keinen Deut "europäischer" geworden, dafür hat sich die Racan-Koalition gewissermaßen der HDZ-"Philosophie" angenähert: "Europa ja, Balkan nein" war ihre Leitlinie bei den gerade abgeschlossenen Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen. Damit ging sie den Brüsseler Eurokraten gewaltig auf die Nerven, konnte sich aber letztlich mit dieser Position nicht durchsetzen.
Das kroatische Beharren auf individuellem Zugang zur EU-Integration mag von Ferne wie eine verständliche Abneigung gegen die Gleichstellung mit Ländern wie Serbien und anderen anmuten, ist tatsächlich aber nur Ausdruck kroatischer Arroganz gegenüber balkanischen Nachbarn. Und es ist letztlich eine Verweigerung gegenüber europäischen Intentionen für südosteuropäische Integration. Bodo Hombach, EU-Beauftragter für den Stabilitätspakt für Südost-Europa, kennt seine Zagreber Pappenheimer und deren Geistesverwandte in anderen Balkan-Regionen:
Ja, da muss man aufpassen, dass sich nicht das Missverständnis einschleicht, und leider hat der eine oder andere Politiker nicht nur in Kroatien in den letzten Monaten dieses Missverständnis auch formuliert, dass Gemeinsamkeit quasi auch integrationsschädlich ist, dass der Stabilitätspakt eine Art Warteraum für die EU wäre, gar diesen Prozess der Integration verzögert. Als wir merkten, dass es solche Missverständnisse gibt, haben wir selber darauf gedrungen, dass ganz deutlich auch für den letzten, damit er es versteht, festgehalten wird, dass regionale Kooperation und Integration die Voraussetzung zur EU-Integration ist.
Wenn das alles ist, was Kroatiens europäischer Zukunft im Wege steht, der Minderwertigkeitskomplex eines kleinen Balkan-Landes oder sein balkanischer Selbsthass, dann sollte es angesichts der schweren Hausaufgaben, die Brüssel Zagreb mit vielen Details im umfangreichen Vertragstext auferlegt hat, bald verfliegen. Ist es denn alles?
Keineswegs! Vielmehr fehlen in Kroatien die Voraussetzungen für eine EU-Integration - beginnend mit dem fehlenden Wissen, was man eigentlich begonnen hat und erreichen will. Weil das so ist, kann Kroatiens EU-Wunsch, sollte er jemals erfüllt werden, nur damit enden, dass das Land Anhängsel eines anderen wird, das weiß, was es will. So schwarz erscheint dem unabhängigen Wirtschaftsanalytiker Branimir Lokin die Zukunft Kroatiens:
Im Grunde kommen wir über einen Globalisierungsprozess in die Europäische Union. Darum ist es so wichtig, eine eigene Strategie zu haben, anderenfalls wird man Figur fremder Strategien. Bei uns gibt es keine Strategie, keine richtungsweisenden Entscheidungen, der Staat verhält sich unter den gegebenen Umständen inadäquat und wirkungslos.
Also stand wenig oder nichts hinter den ungezählten Zagreber Bekenntnissen zu Europa? Das Interesse an Europa jedenfalls ist nicht sehr groß. Eine exklusiv für Abgeordnete organisierte Präsentation des Integrationsprozesses Kroatiens in die EU lockte gerade zwanzig von ihnen an - was der zuständige Minister Jakovcic als erwartungsgemäß und gar nicht schlecht bezeichnete. Offenkundig hat seine Stellvertreterin Mirjana Mladineo, die die eigentliche "Seele" der kroatischen EU-Inte-gration ist, recht, wenn sie seufzt:
In Kroatien besteht noch kein Bewusstsein dessen, wie umfassend und tiefgehend die Reformen des gesamten Systems sein werden, um es in Einklang mit dem EU-System zu bringen.
Bei den Politikern nicht. Aber was ist mit den Menschen, die doch - wie andere Osteuropäer auch - die Perspektive der EU-Integration mit der Verheißung von Wohlstand und Freizügigkeit gleichsetzen?
Nur knapp 30 Prozent erwarten noch eine Besserung ihrer Lebensumstände, die Rate der unbedingten EU-Befürworter sank von 88 Prozent im März 1998 auf 68 Prozent im Mai 2001, und nur noch 51 Prozent meinen, dass Kroatien auf einen EU-Bei-tritt vorbereitet sei. Die Menschen in Kroatien, scheint's, sind realistischer als die Politiker.
Die Medien offenkundig auch. In ihren letzten Ausgaben haben die Zagreber Nachrichtenmagazine "Globus" und "Nacional", die sich normalerweise spinnefeind sind, übereinstimmend zehn Gründe aufgezählt, wegen derer Kroatien nicht in die EU kann. Es sind vor allem ökonomische Gründe, die sich wie eine Bestätigung des Verdikts ausnehmen, das der vor einigen Monaten verstorbene charismatische Oppositionelle Vlado Gotovac bei den Wahlen im Januar 2000 äußerte:
Kroatien steckt in einer tiefen Krise. Um aus ihr herauszukommen, bedarf es eines gesamtnationalen Kompromisses.
Statt des gesamtnationalen Kompromisses ist ein allkroatischer Verlust zu verzeichnen, den Experte Branimir Lokin so umreißt:
Kroatien hat in einer langen und fortdauernden Krise eine ganze Generation verloren. Wir haben sie als eine Energie in der Gesellschaft verloren, denn jetzt haben wir sehr viele Leute, die wir nicht mehr beschäftigen und noch nicht in Rente schicken können.
Und das im einstigen Boom-Land in Tito-Jugoslawien, das mit Schiffbau und Adria-Tourismus Milliarden einstrich. Kann al-te Herrlichkeit wenigstens in Ansätzen zurückkehren, wenn neue Investoren eine alte Infrastruktur wiederbeleben?
Nein - meinen kompetente Kritiker. Und zwar aus drei Gründen: Erstens schreckt der bürokratische Staat potenzielle Investoren ab - anderthalb Jahre vergehen, bis man die nötigen Dokumente für irgendeine Neugründung beisammen hat, wobei man immer noch keine Rechtssicherheit besitzt, etwaige Gewinne ins Ausland transferieren zu können.
Zweitens will niemand in Kroatien investieren: Im März und April bot Kroatien in Londoner Zeitungen 21 Hotelkomplexe an attraktivsten Plätzen seiner Adria-Küste zum Verkauf an. Niemand zeigte dafür Interesse.
Und drittens sind die kroatischen Manager, staatliche wie private, durch die Bank Distributoren einer spezifischen Fremdenfeindlichkeit: Da ihre Produkte in Preis und Qualität nicht einmal mehr in Osteuropa konkurrenzfähig sind, geschweige denn im Westen, sind sie strikt gegen ausländische Mitbewerber um kroatisches Familien-Silber, wie es in Pressekommentaren poetisch heißt. Natürlich wird diese Obstruktion mit nationalökonomischer Besorgnis bemäntelt, wie Ende Mai ein Brief der führenden Manager an Wirtschaftsminister Goran Fizulic bezeugte. Zum Inhalt sagte Želimir Vukina, einer der Absender:
Wer den Brief gelesen hat und guten Willens ist, sieht, dass es hier nicht um den Schutz der heimischen Industrie geht, auch nicht um die Suche nach Sonderrechten und Privilegien, sondern allein darum, dass es eine kroatische Industrie gibt, die sich entwickelt und sich unter gleichen Bedingungen mit der Konkurrenz auf diesen Märkten und darüber hinaus messen möchte.
Das klingt doch vernünftig: Jeder Staat muss zunächst die eigenen Fabrikanten und ihre Arbeiter berücksichtigen, weil eigene Arbeitslose schwerlich fremde Waren kaufen können.
Völlig richtig, aber im Falle Kroatiens geht es um den Schutz eines unreformierten Wirtschaftssystems und reformunwilliger Politiker, von denen der Kroatische Arbeitgeberverband unlängst ultimativ eine Mitbeteiligung in der Wirtschaftspolitik forderte: Der Staatsanteil an der Wirtschaft ist nach wie vor erdrückend, die nationale Währung Kuna ist zu mindestens 30 Prozent überbewertet. 40 Prozent des gesamten Wirtschaftslebens wickeln sich im Bereich der Schwarzarbeit ab - Kroatiens Wirtschaft und Politik sind am Boden. Eine der Ursachen dafür sieht der Ökonom Velimir Srica in der unzureichenden Bildung:
In Kroatien haben zwischen 6 und 7 Prozent der Menschen eine Hochschulausbildung. Der Durchschnittskroate hat nicht einmal Mittelschulbildung, er ist relativ ungebildet. Da verwundern nicht die Wahlergebnisse, nicht die Tiefe der Krise, nicht unsere aktuellen Probleme der Perspektivlosigkeit.
Junge Kroaten gehen acht Jahre zur Grundschule, vier zur Oberschule, weitere vier - wenn sie die Prüfungshürden schaf-fen - zur Universität und noch zwei in die Post-Diplomstu-dien, die zu akademischen Würden verhelfen. Und dann?
Dann verlassen sie das Land auf Nimmerwiedersehen, wenn sie die geringste Chance wittern: 140.000 sollen in den letzten Jahren diesen Weg ohne Rückkehr gegangen sein. Dieser Exodus ent-blößt Kroatien seiner Bevölkerungsenergie, mehr noch seiner Entwicklungsenergie.
Junge Kroaten fliehen aus Kroatien, das bei allen eigenen Problemen auch noch ein paar internationale aus dem Erbe des rechtsextremen Diktators Tudjman hat. Der hatte in den Kriegsjahren Hunderttausende für seinen Domovinskirat (Heimat-Krieg) mobilisiert, von denen schon früh manche ins Visier des Haager Kriegsverbrecher-Tribunals geraten waren. Das missfiel in Kroatien, wo auch Kriegsverbrecher als Helden verehrt werden. Daraus erwuchsen Irritationen, die Michael Steiner - vormals Stellvertretender UN-Repräsentant in Bosnien, derzeit Kanzlerberater in Berlin - Ende letzten Jahres noch in lebendiger Erinnerung hatte:
Denken Sie an Kroatien, da war es anfangs sehr, sehr schwierig, die Kriegsverbrecher, die Angeklagten zu überstellen nach Den Haag. Inzwischen arbeitet Kroatien gut mit Den Haag zusammen. Das war ein Prozess, der am Anfang etwas holprig war...
... und inzwischen wieder holprig ist, da sich das Haag für kroatische Ex-Kommandanten interessiert. Die kroatische Regierung muss und wird sie ausliefern, wenn das Haag es will, denn sie kennt dessen Bedeutung als internationale Institution, der sich gerade Balkan-Staaten unterordnen müssen. Premier Racan
Wir sind uns bewusst, dass das Gericht im Haag gebildet wurde, weil die internationalen Faktoren meinen, dass bestimmte Länder, in denen Kriegsverbrechen geschahen, unfähig sind, das selber zu klären und Kriegsverbrechen, die auf ihren Territorien begangen wurden, in Prozessen zu ahnden. Die kroatische Regierung meinte und meint, dass sie dazu sehr wohl imstande ist, gewiss heute weit mehr als gestern, und wir wollen das beweisen.
Der Beweis wird schwer genug, da um Figuren wie General Mirko Norac ein politischer Konflikt entbrannt ist. Hinter ihm stehen die starken Verbände der Kriegsveteranen des Tudjman-Re-gimes. Die richteten bereits lärmende Massenversammlungen in Split und anderswo und drohten mit einem Marsch auf Zagreb. Die Rechte macht mobil. Es ist die Unzufriedenheit vieler Kroaten - mit einer neuen Regierung, die viel versprach, wenig hielt, fast nichts veränderte, aber manches verschlimmerte: Die Auslandsverschuldung Kroatiens stieg auf knapp 11 Milliarden Mark, die Binnenverschuldung auf 6 Milliarden. Die Regierung ist vorwiegend mit Kommunikationsstörungen in den eigenen Reihen beschäftigt, der Staat ist zu teuer und zu ineffizient - die Durchschnittslöhne mit über 600 Mark monatlich sind bei der maroden Wirtschaft zu hoch, zudem von wachsender Inflation bedroht.
So etwas wird von der EU, der Weltbank und weiteren internationalen Institutionen nicht übersehen. Und Kroatien muss noch viele schwere Lasten stemmen, bis es deren Anerkennung erlangt. Das neue Assoziierungsabkommen enthält Auflagen in Fülle. Kann Kroatien die im vorgesehenen Zeitraum von maximal sieben Jahren schaffen? Viele bezweifeln das. So auch der kroatische Psychiater Eduard Klain. Für ihn zeigt die gesamte kroatische Gesellschaft ernsthafte Krankheitssymptome, die zu heilen viel mehr Zeit benötigt:
Unsere Gesellschaft hat eine Chance, aber die Zeit wird lang sein. Gewiss wird eine Generation darüber vergehen, es können aber auch zehn werden, wenn man nicht bald mit Änderungen beginnt. Und dieser Regierung und allen folgenden empfehle ich, sich ernsthaft mit diesem Volk zu beschäftigen. Eine Regierung, die sich nur mit sich selber beschäftigt, könnte die nächsten Wahlen verlieren.