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Kröpfchen und Töpfchen

Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste bietet Neues aus der Welt der Gegensatzpaare Isar und Seine, Polen und Deutschland, Musik und Lärm, Mann und Frau, Kinder und Menschen. Anwendung findet wie immer die seit Aschenputtel bewährten Differenzierung zwischen Kröpfchen und Töpfchen.

Kommentiert von Gisa Funck und Denis Scheck |
    Gisa Funck: Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

    Scheck: Lassen Sie es mich mit Franz Kafka sagen: "Oft - und im Innersten vielleicht ununterbrochen - zweifle ich daran ein Mensch zu sein." Und je länger ich die Bücher auf der deutschen Bestsellerliste lese, desto größer werden meine Zweifel.

    Zuspiel: Pulp Fiction: "You will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon thee:"

    Scheck: Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch:

    Funck: Wie immer mit der seit Aschenputtel bewährten Differenzierung zwischen Kröpfchen und Töpfchen, Gut und Schlecht sowie diesmal mit dem Unterschied zwischen Isar und Seine, Polen und Deutschland, Musik und Lärm, Mann und Frau, Kindern und Menschen sowie dem Leben von Pilgern und dem von Bahnreisenden in der ersten und in der zweiten Klasse.

    Funck: In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen
    3985 Gramm auf die Waage: zusammen 3287 Seiten.

    Funck: Platz 10: Eva Maria Zurhorst: Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest (Arkana, 384 Seiten, 18,90 Euro)

    Scheck: Wahr ist, dass Eva Maria Zurhorst im Glauben an Gott den Universalschlüssel für alle Beziehungsprobleme sieht. Unwahr hingegen, dass die Autorin als Fortsetzungen ihrer Ratgeberreihe die Titel plant: "Liebe dich selbst und es ist egal, wie hoch der Ölpreis klettert", "Liebe dich selbst und es ist egal, wenn deine Kinder koksen" und "Liebe dich selbst und es ist egal, wie groß dein Dachschaden ist".

    Funck: Platz 9: Eduard Augustin, Philipp von Keisenberg, Christian Zaschke: Ein Mann, ein Buch (SZ Edition, 415 Seiten, 19,90 Euro)

    Scheck: Wie liegen die genauen Öffnungszeiten des Marriage Bureau in Las Vegas?

    Funck: 8 bis 24 Uhr, an Feiertagen und Wochenenden rund um die Uhr.

    Scheck: Gibt es Wechseljahre beim Mann?

    Funck: Vielleicht.

    Scheck: Wann sollte man sein Testament machen?

    Funck: Jetzt!

    Scheck: Ein kleines, doch verblüffend anspruchsvolles und amüsantes Sammelsurium des Wissens, das den Mann zum Mann macht.

    Funck: Platz 8: Oliver Kahn: Ich (Riva Verlag, 352 Seiten, 24,90 Euro)

    Scheck: Auf Seite 73 seines Buchs über Selbstmotivation und die Bedeutung, sich fortlaufend Ziele im Leben zu setzen, schreibt Ex-Torwart Kahn:

    Funck: "Im Herbst 2006 hatte ich das Glück und das Vergnügen, den argentinischen Schriftsteller Paolo Coelho in Paris zu treffen."

    Scheck: Erstens heißt Coelho mit Vornamen Paulo mit U und nicht Pa-o-lo.
    Zweitens ist Paulo Coelho Brasilianer und nicht Argentinier. Und drittens hätte irgend jemand Oliver Kahn sagen sollen, dass die Stadt an der Isar nicht Paris heißt.

    Funck: Platz 7: Oliver Sacks: Der einarmige Pianist (Deutsch von Hainer Kober, Rowohlt Verlag, 398 Seiten, 19,90 Euro)

    Scheck: Der Neurologe Oliver Sacks erzählt faszinierende Geschichten über die Musik, unser Gehirn und die menschliche Natur, und er macht das in dieser Sammlung packender Fallgeschichten so klug, differenziert und wohltuend belehrend, dass man zu Hause beim Lesen immer wieder zwischen CD-Regal und Buch hin- und herläuft. Ein gutes Buch, ja: ein Wahnsinnsbuch!

    Funck: Platz 6: Steffen Möller: Viva Polonia (Scherz Verlag, 368 Seiten, 14,90 Euro)

    Scheck: Ein überfälliger, ein notwendiger, aber leider allzu flacher Essay über das Verhältnis von Deutschen und Polen. Wann immer ein Fitzelchen realer Erkenntnis, ein Einblick in die komplexen Nationalcharaktere am Horizont dieses Textes auftaucht, rettet sich der seit bald 15 Jahren in Polen als Kabarettist lebende Autor in bescheiden unterhaltsame Anekdoten. Leider haben wir Deutschen keinen Andrzej Stasiuk, keine Olga Tokarczuk oder Dorota Maslowska nach Polen geschickt.

    Funck: Platz 5: Mark Spörrle und Lutz Schumacher: senk ju vor träwelling (Herder, 192 Seiten, 12 Euro)

    Scheck: Dieser "Überlebensführer" ist ein schlimmer Fall von deutscher
    Witzischkeit: Wer Sprüche wie "Carpe Bahnem!" wirklich lustig findet, verschimmelt ganz zu Recht in lausig gewarteten Bummelzügen. Allerdings ist es nur eine Frage der Zeit, bis ähnliche Bücher über ähnlich unschöne Dinge des Lebens wie Ikea, Flughäfen oder Düsseldorf erscheinen werden.

    Funck: Platz 4: Rhonda Byrne: The Secret - Das Geheimnis (Aus dem Englischen von Karl Friedrich Hörner, Arkana, 237 Seiten, 16,95 Euro)

    Scheck: Über den

    Funck: "großen Wissenschaftler Albert Einstein"

    Scheck: schreibt das Autorenkollektiv dieses unsäglich dämlichen Begleitbuchs zu einer australischen Esoterik-Fernsehserie:

    Funck: "Einstein wusste sehr viel von dem Geheimnis, und er sagte täglich Hunderte von Malen: Danke."

    Scheck: Das mag sein. Albert Einstein wusste aber auch sehr viel von Abzocke und sagte deshalb täglich Hunderte von Malen: "Mumpitz!" Und wahrscheinlich auch "Humbug!", "Schwachsinn!" und "Kokolores!"

    Funck: Platz 3: Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg (Malik, 352 Seiten, 19,90 Euro)

    Scheck: Ein Wandertagebuch vom Jakobsweg, zusammengehalten durch nichts als die sympathische Persönlichkeit des Erzählers. Leider bleiben Dönekens selbst dann, wenn sie von einem begnadeten Komiker, Showmaster, Entertainer, Tänzer, Sänger und Schauspieler stammen, wie andere seiner Körperausscheidungen übrigens auch, einfach nur Dönekens.

    Funck: Platz 2: Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden (Gütersloher Verlagshaus, 191 Seiten, 17,95 Euro)

    Scheck: Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff hat eine Theorie:
    "Auf Grund des besonders in den letzten etwa zwanzig Jahren zu verzeichnenden extremen Wohlstands besteht aus tiefenpsychologischer Sicht die Gefahr einer stetigen Regression des Einzelnen. Die wahre, ursprüngliche Fremdbestimmung des Menschen durch Hunger, Durst, Kälte oder Krieg ist nicht mehr zu spüren und in der westlichen Gesellschaft unvorstellbar geworden." Darüber wird im Rom Kaiser Hadrians, im Venedig der Dogen und im London Königin Victorias sehr gelacht werden.

    Funck: Platz 1: Richard David Precht: Wer bin ich und wenn ja wie viele (Goldmann Verlag, 398 Seiten, 14,95 Euro)

    Scheck: Zugegeben: Die Welt ist manchmal schwer in Ordnung - gerade sommers. Zum Beispiel wenn ein Buch auf Platz eins der Bestsellerliste steht, das ebenso unaufgeregt wie fachkundig in die Neurowissenschaften wie in die Geschichte der Philosophie einführt und seine Leser geradezu unverschämt bildet.