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Kühle Brüder

Die Schriftstellerbrüder Friedrich und Ernst Jünger sind im Vergleich zu vielen anderen Geschwistern in der deutschen Literaturgeschichte eher unbekannt. Jörg Magenau will das mit einer Biografie und einer Textsammlung ändern. Dabei spart er nicht mit Kritik an seinen Protagonisten.

Von Helmut Mörchen | 27.06.2013
    Jörg Magenau erzählt in seinem Buch "Brüder unterm Sternenzelt" das Leben der Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger aus der Perspektive des drei Jahre älteren Ernst. Acht Mal lässt er den bereits über Hundertjährigen 1996 auf die gemeinsame Zeit mit Friedrich Georg zurückblicken. Der Bruder ist da schon zwei Jahrzehnte tot. Die verschiedenen Etappen und Zeitebenen verschachtelt Magenau romanhaft-essayistisch und so ergeben sich sieben Lebensräume, betitelt mit "Moor", "Feld", "Städte", "Gärten", "Höhlen", "Wald" und "See". Die Unterabschnitte dieser Kapitel ordnet er jeweils präzis räumlich und zeitlich verortet den vier Elementen Wasser, Erde, Feuer, Luft zu. Schon in dem der Luft zugeordneten Prolog "Wilflingen 1996" stehen der Tod und die Ernst Jünger vorausgegangen Toten im Zentrum des Erinnerns in der Form erlebter Rede.

    In diesem Prolog lässt Magenau Ernst Jünger sich an seine Sammlung "Letzter Worte" erinnern. Die von Jünger während der vierziger und fünfziger Jahre auf Postkarten erfassten letzten Äußerungen berühmter, aber auch nicht prominenter Sterbender hat nun Jörg Magenau neben seiner Brüder-Biographie herausgegeben.

    Aus der von Jünger alphabetisch geordneten Kartensammlung hat er ein lesbares Büchlein gemacht. Dabei orientierte er sich an Überlegungen Jüngers zur Ordnung seines Materials. In den vier großen Schubladen "Rückschau", "Gewalttaten", "Todesarten" und "Vorschau" bringt Magenau Sterbende über die Zeiten hinweg in imaginäre Gespräche. Unter Stichworten wie "Freunde, Feinde, Vaterländer", "Gärten und Blumen" oder "Himmel, Erde, Hölle" gruppiert er inhaltlich Verwandtes. Reizvoll bei den letzten Worten ist die Schwebe zwischen historischer Überlieferung und anekdotischer Fiktion. In einer Zeit sprachlosen Sterbens auf Intensivstationen heute hat die Erinnerung an einen anderen Umgang mit dem Tod Gewicht.

    Jörg Magenau betont sowohl in der Brüder-Biografie wie im informativen Nachwort der "Letzte Worte"-Edition die Einheit von Leben und Tod in Ernst Jüngers Denken.

    "Der Tod oder die Auseinandersetzung mit dem Tod war für Ernst Jünger eines der großen Lebensthemen. Wenn man hundert wird, dann bleibt es nicht aus, dass man mit Zeit und Zeitlichkeit und Fragen von Vergehen und Ewigkeit zu tun hat. Ernst Jünger war ja einerseits ein großer Überlebenskünstler schon im Ersten Weltkrieg, wo er den Tod nicht fürchtete, und lernte auch, sich den Tod zum Freund zu machen, dass Freiheit darin besteht, den Tod nicht als Gegensatz zum Leben zu sehen, sondern als dessen integralen Bestandteil. Und er war ein großer Sammler und hat nicht nur letzte Worte gesammelt, sondern auch Käfer, was ja auch mit Töten, Bewahren und Verewigen zu tun hat, hat Sanduhren gesammelt, hat Drogenexperimente gemacht, hat sich für Schiffsuntergänge interessiert, all das hat mit der Konfrontation mit dem Sterben zu tun, der Frage auch, was kommt danach."

    Frühe Todesnähe im Krieg und dramatische Lebensrettungen verbinden die Brüder Ernst und Friedrich Georg innerhalb des fünfköpfigen Geschwisterkreises in besonderer Weise. Ernst und Fritz, 1895 und 1898 geboren, waren im Gegensatz zu den jüngeren Brüdern nicht einfache Kriegsteilnehmer, sondern begeisterte Soldaten, die im Krieg den Sinn ihres Lebens fanden. Beide blieben nach Kriegsende erst einmal Berufsoffiziere und fanden nach ihrer Entlassung aus dem Militärdienst keine Zukunft in einem zivilen Beruf. Beide Brüder wandten sich während der Weimarer Republik ganz der republikfeindlichen nationalistischen Publizistik zu und wurden auf diesem Weg zu freien Schriftstellern.

    Schriftstellerbrüder sind in der deutschen Literaturgeschichte ja gar nicht so selten: August Wilhelm und Friedrich Schlegel, die Brüder Grimm, Heinrich und Thomas Mann. Da die beiden letzten, wenn auch älter, kulturelle und politische Zeitgenossen der Jünger-Brüder waren, drängt sich die Frage nach Gemeinsamkeiten oder Differenzen auf:

    "Also wenn man beide Brüder als Einheit sieht, dann sind die Brüder Mann doch irgendwie Demokraten, sozial oder sozialistisch orientierte Demokraten wie Heinrich Mann oder zur Demokratie kommende wie Thomas Mann. Die Jünger-Brüder waren Antidemokraten, stehen also gemeinsam an einem anderen politischen Spektrum. Intern gesehen, also als Brüderpaar, ich glaube, das ist der eigentliche Gegensatz, Thomas und Heinrich Mann waren ja selber Antipoden, haben sich zumindest nicht gerade besonders gemocht, was ihre Literatur sowohl auch ihre politischen Statements angeht. Die Brüder Jünger dagegen waren immer ein Paar, das sich gegenseitig anregte, sich ergänzte, das sich als ein Miteinander begriff, sowohl politisch als auch schriftstellerisch. Es gab erstaunlicherweise zwischen ihnen überhaupt kein Konkurrieren, keinen Neid."

    Vielleicht ist die unterschiedliche Beziehung zu den Vätern der größte Unterschied zwischen den Manns und den Jüngers. Der frühe Tod des Vaters von Heinrich und Thomas Mann befreite die Lübecker Kaufmannssöhne nicht nur von väterlichem Druck, sondern ermöglichte auch den Ausbruch aus der Enge der kleinen Hansestadt in das Boheme-Leben des Münchens der Jahrhundertwende. Bei den Brüdern Jünger dagegen beobachtet Jörg Magenau sehr präzis: "Weder Fritz noch Ernst gelang es je, die väterliche Autorität abzuschütteln." Und den hundertjährigen Ernst lässt Magenau resümieren: "Der Vater verlangte Respekt. Der Bruder brauchte Liebe."

    In der sehr lebendig geschriebenen Biografie schont Magenau seine beiden "Helden", vor allem Ernst Jünger nicht. Der in den "Stahlgewittern" des Krieges vermeintlich Gestärkte erscheint im Alltag als ich-schwacher Chauvi, der sich gern in die Welt seiner Sammlungen und literarischen Konstrukte flüchtete. Zog er um, und das kam häufig vor, überließ er die ganze Organisation und Arbeit seiner Frau Gretha, begab sich rechtzeitig vorm Packen der Kisten auf Reisen und kehrte erst in das neue Domizil zurück, wenn alle Bücher wieder wohl geordnet in den Regalen und die Käferschränke am richtigen Platz standen. Als Gretha dann an Krebs erkrankte, war er völlig halt- und hilflos. Entweder er ließ die Kranke allein oder er saß niedergeschlagen und jammernd an ihrem Bett, selbst darauf angewiesen, von ihr gestützt und getröstet zu werden. Nach Grethas Tod bedeutete dann die Hochzeit mit Liselotte Lohrer, die sich zuvor schon einmal Friedrich Georg zugewandt hatte, einen nie wieder vernarbten Einschnitt in die Symbiose der beiden Brüder.

    Magenau ist auch bemerkenswert kritisch im Urteil über die politischen Eskapaden der Jünger-Brüder. Ihr reaktionärer Nationalismus führte sie zwar nicht in den Nationalsozialismus, aber in eine ihre Mitmenschen verachtende asoziale Kälte. Und bei aller Anpassung an die Nachkriegs-Bundesrepublik, in der sie ihre größten Erfolge feiern durften, blieben beide elitäre Antidemokraten.

    Jörg Magenau hat sich der Frage gestellt, warum sich die Zuwendung zu den Personen und eine weitere Beschäftigung mit den Werken der beiden Jünger-Brüder trotz allem lohnt:

    "Bei Friedrich Georg, würde ich sagen, ist es "Die Perfektion der Technik", das ist sein wichtigstes Buch für mich, vielleicht noch die "griechischen Mythen", wo er sich mit der Mythologie auseinandersetzt, und seine beiden autobiografischen Romane, die die Kindheit und die Zeit der zwanziger Jahre des Erwachsenwerdens in Berlin beschreiben. Bei Ernst Jünger ist es leichter zu antworten und zu sagen, es sind vor allem die großen Tagebücher, "Strahlungen" über den Zweiten Weltkrieg und "Siebzig verweht" als Alterstagebuch. Als Tagebuchschreiber ist er, in dieser Mischung aus Biografischem und Essayistischem am großartigsten. Von den Prosawerken muss man dann noch auf jeden Fall "Das abenteuerliche Herz" nennen, als surrealistisches Traum- und Visionenbuch am Ende der Zwanziger Jahre entstanden."

    Jörg Magenaus Doppelbiografie ist bestens geeignet zur Einstimmung in die von ihm empfohlenen Jünger-Texte. Vergnügen bereitet auch das Blättern in der Sammlung "Letzter Worte". Zum Schluss des Nachworts teilt uns Magenau mit, dass von beiden Brüdern keine Lebensschlusssätze überliefert seien. In einer feuchtfröhlichen Gesprächsrunde über die entstehende Sammlung schlug sein Sekretär Armin Mohler dem Chef scherzhaft ein "Melde mich zur Stelle!" vor. Ein halbes Jahrhundert vor seinem Tod konterte Ernst Jünger mit dem schönen Gegenvorschlag "Bitte, vorbeitreten zu dürfen."

    Jörg Magenau: Brüder unterm Sternenzelt. Friedrich Georg und Ernst Jünger. Eine Biographie. Stuttgart, Klett-Cotta 2012. 320 Seiten, 22,95 Euro.

    Ernst Jünger: Letzte Worte. Hrsg. von Jörg Magenau
    Stuttgart, Klett-Cotta 2013. 245 Seiten, 22,95 Euro.