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Kühle Frauen

Grethe Jürgens, geboren 1899 bei Osnabrück, seit 1919 in Hannover lebend und arbeitend, gilt als eine der führenden Vertreterinnen der Neuen Sachlichkeit. Gleichzeitig war sie aber auch eine schlecht bezahlte Werbezeichnerin der Firma Hackethal Draht- und Kabelwerke. In kühlem Realismus hielt Grethe Jürgens fest, was sie als "Hinterhöfe des Lebens" bezeichnete. In Celle sind jetzt bisher unbekannte Skizzen von Grethe Jürgens zu sehen.

Von Rainer-Berthold-Schossig |
    Neben den vielen schmalbrüstigen Fachwerkhäusern und seinem berühmt-berüchtigten "Festen Haus" hat Celle seit einigen Jahren auch ein gläsernes Haus: Direkt gegenüber dem Renaissanceschloss liegt das Kunstmuseum mit Sammlung Robert Simon; ein so genanntes 24-Stunden Museum, was ist das?

    Ein 24 Stunden Kunstmuseum muss man sich so vorstellen: Am Tag geht man normal in das Haus, sieht Tafelbilder, Skulpturen und Objekte; das Haus schließt, man steht davor, geht um das Haus herum und sieht internationale Lichtkunst, die gesamte Nacht hindurch.

    Der hannoversche Galerist, Sammler und Mäzen Robert Simon engagiert sich seit über 10 Jahren in Celle, in der Hannover nahen Provinz. Sein gläsernes Haus leuchtet nachts mit Objekten von Otto Piene, Klaus Geldmacher und Brigitte Kowanz, tagsüber glänzt es innen mit Plastiken von Hauser und Heiliger, Gemälden von Dieter Krieg, Ben Willikens und Lienhard von Monkiewicz sowie Multiples von Josef Beuys, Timm Ulrichs und vielen anderen.

    Ich denke, eine Sammlung kann nicht subjektiv genug sein. Wir haben so viele austauschbare Sammlungen, deshalb habe ich immer Wert darauf gelegt, der Sammlung ein eigenständiges Profil zu geben.
    Ich habe mich immer für das, was in der Umgebung passiert ist, interessiert. Hannover in den 20er Jahren – das war ja eine ganz spannende Zeit.


    Und genau hier, in einer scheinbar kunsthistorisch mittlerweile längst abgefrühstückten Ära, hat Robert Simon eine schöne Entdeckung machen können: Einen bislang unbekannten Werkblock der wichtigen Neusachlichen Künstlerin Grete Jürgens aus Hannover: Drei vergessene Skizzenblöcke aus den Jahren 1919 bis 21 mit Zeichnungen und Aquarellen, von denen 80 jetzt in Celle erstmals zu besichtigen sind:

    Grete Jürgens hatte an der Podbi ihr Atelier, darunter lebte eine Familie, deren Kinder stets bei ihr im Atelier waren, und diesen Kindern schenkte sie diese Skizzenbücher. Nun hatten die mit Kunst nicht viel am Hut, und deshalb lagen diese Skizzenbücher Jahrzehnte irgendwo brach und sind erst entdeckt worden.

    Eilig und emsig, dabei sehr präzis hingekritzelte Notizen: Einfache Menschen im Alltag unterwegs, ihren kleinen Geschäften nachgehend, Handwägen ziehend, mit Sack und Pack. Spielende Kinder, um Straßenecke kurvende Radfahrer, überhaupt ein Hauch von Kuhle Wampe, Arbeitermilieu und Vorstadtsiedlung, Interieurs, Portraits, Alltagsszenen, sehr licht und offen, mit viel Empathie und Ernst festgehalten, so uns heute, Jahrzehnte später, Einblicke gewährend in eine fremd gewordene Vorzeit. Grete Jürgens, Jahrgang 1899, studierte damals an der Städtischen Handwerker- und Kunstgewerbeschule für Maschinen-. Und Apparatebau. Sie war 20 Jahre alt, als diese Skizzen entstanden; nicht mehr expressionistisch, aber auch noch nicht neusachlich – Neue Sachlichkeit avant la lettre sozusagen, der Weg dahin lässt sich schon deutlich ablesen.

    Bilder, die mit Sicherheit in Hannover und Umgebung entstanden, einer damals künstlerisch quicklebendigen Stadt: die Kestnergesellschaft war soeben gegründet, es gab das Kabinett der Abstrakten, und Kurt Schwitters mit seiner merz-Kunst prägte dort die 20er Jahre. An den neu entdeckten Skizzenbücher von Grete Jürgens ist jetzt ein Stück davon in Celle wieder zu entdecken. Robert Simon sieht keine Konkurrenz seines Hauses zu Hannover – im Gegenteil:

    Wir verfolgen hier eine gewisse Nischenpolitik, wir haben ein ganz große Fan-Gemeinde in Hannover, Hannover war eine stark zerstörte Stadt, Celle ist die Bilderbuchstadt aus dem Mittelalter überhaupt, deshalb fahren die Hannoveraner sehr gern nach Celle, jetzt noch lieber nachdem es dieses Museum gibt.