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Künstlerische Moderne und Globalisierung

Zu der Zeit, als die Utopie des Hobby-Komponisten Jean-Jacques Rousseau vom polyphonen Staatskörper bereits fragwürdig geworden war, entdeckten einige besonders idealistisch veranlagte Ethnologen im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, dass es das Paradies auf Erden doch gibt. Es war lediglich einen Segeltörn von einigen Monaten entfernt. Sie hatten es auf Tahiti oder in der Terra Australis entdeckt oder in Fernost, im unüberschaubaren Archipel Indonesiens.

Von Carsten Probst |
    So oder so ähnlich muss es aus Dieter Mack ergangen sein, Professor für Komposition an der Musikhochschule Lübeck, als er, bereits die heute üblichen Verkehrsmittel nutzend, zum ersten Mal auf Bali mit der dortigen traditionellen Musik konfrontiert wurde und, wie er sagt, damit zu seiner ganz persönlichen Kultur zurückfand.

    Die Praxis der traditionellen Balinesischen Musik brachte mich auf Konzepte, die in der westlichen Kultur verloren gegangen sind, die man beispielsweise in der mittelalterlichen Musikpraxis finden konnte, ein Wissen, das ich als neue Idee von kollektiven Musik bezeichnen möchte, von Kollektivität. Ich kann mich hier deshalb auch nicht als individueller Musiker präsentieren, denn meine Ideen sind immer mit Gruppen von Musikern verbunden und mit der Interaktion innerhalb dieser Gruppen.

    Die Funktion des Dirigenten wird zeitweilig oder ganz ausgeschaltet und das Dirigieren den Musikern selbst überlassen, was Macks Worten zufolge in der Aufführungspraxis dieser Kollektivmusik zwangsläufig eine Art Performance ergibt, die auch dem Zufall ausgesetzt ist. Dabei jedoch, wie nach dem Prinzip der Chaostheorie, werden immer neue Strukturen sicht- und hörbar. Da es sich im Berliner Haus der Kulturen um eine Tagung mit begrenzten Zeit und Raum handelt, kommt es hier leider zu keiner Kostprobe von Macks Ideen Aber er hat ein Gegenbeispiel mitgebracht, wie die minimalistische Anlage der balinesischen Musik vom heutigen Mainstream der globalen Fahrstuhlmusik verhunzt wird.

    So wie in diesem Beispiel eines ungenannt gebliebenen deutschen Kollegen von Mack kann man sich oft genug das Verhältnis westlicher Hörgewohnheiten zum Begriff der Weltkunst oder Weltmusik vorstellen. Es sei daher ein Mißverständnis, wenn man den Rückgriff auf alte Traditionen als antimodern verstehe. Im Gegenteil enthielten diese Traditionen viele bereits auf die moderne vorausweisende Elemente. Als ein Klassiker in dieser Hinsicht muss wohl der gebürtige Argentinier Guillermo Gregorio gelten, ein mittlerweile älterer Herr und bekennender Globalisierungsgegner, dessen Kompositionen sich an die Fluxus-Perfomances der sechziger Jahre anlehnen. Während auf der Bühne immer neue Zufallsgebilde auf- und abgebaut werden, kreiert seine Musik strukturierte oder nicht strukturierte Klangbilder, zu denen Gregorio unter anderem auch architektonische Zeichnungen anfertigt, wie in seiner an die Frühzeit Morton Feldmans erinnernde Suite für Alexander Rodschenko, den russischen Konstruktivisten...

    Doch das Augenmerk dieser Tagung gehört nicht zuletzt auch den durchaus extremen Improvisateuren, die sich mit ihren Klangbildern in den Grenzbereichen zwischen Tradition und Moderne bewegen und also kaum noch einzuordnen sind. Jener ephemeren Kunst, die sich mithin auch jenseits der Grenzen des schön konsumierbaren bewegt und den kulturellen Disput zwischen modernistischer Überformung und Bewahrung der Tradition verstummen lässt. Maazen Kerbaj etwa, junger Improvisationsmusiker aus Beirut, schafft mit seiner durch einen Gummischlauch geblasenen Trompete Klanginstallationen, die, wie er selbst sagt, aus der Frühzeit seiner Kindheit stammen, die vom ständigen Donner des Nahostkrieges geprägt gewesen sei. Musik, die es in Libanon zuvor nicht gegeben habe, eine Musik, die sich längst mehr in der Nähe audiovisueller Installationen bewegt.