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Künstlerische Tendenzen

Italiens Kunst lebt vom Traditionellen - diese Vermutung weckt die im Palazzo Grassi in Venedig angelaufene Ausstellung "Italics - Italienische Kunst zwischen Tradition und Revolution 1968 bis 2008". Dem Kurator Francesco Bonami warfen Kritiker vor, sich zu sehr auf die Vergangenheit und zu wenig auf die Gegenwart konzentriert zu haben.

Von Thomas Migge |
    "Die Idee ist die, die italienische Kunst in einem besonderen Zeitraum vorzustellen: in den letzten 40 Jahren, in denen in Italien politisch und gesellschaftlich viel passiert ist. Die 68er-Bewegung löste diese Veränderungen aus, die noch heute andauern. Ich will zeigen, was Italiens Kunst in diesen letzten 40 Jahren ausdrückte."

    Francesco Bonami ist Kunsthistoriker und Provokateur. Das wird jetzt in Venedig besonders deutlich. Als Kurator betreut der ehemalige Direktor der Biennale 2003 die im Palazzo Grassi am Canal Grande zu besichtigende Ausstellung "Italics - Italienische Kunst zwischen Tradition und Revolution 1968 bis 2008". 250 Werke von über 100 Künstlern. Von Carla Accardi über Enrico Baj, Renato Guttuso und Enzo Chucchi bis Carlo Zinelli.

    Keine x-beliebige Ausstellung zum modernen und zeitgenössischen Schaffen. Im Gegenteil. Schon Wochen vor der Ausstellungseröffnung geriet die Kunstschau in die Schlagzeilen, gab es böse Beschimpfungen, und Künstler zogen ihre Werke zurück - zum Beispiel der Grieche und Wahlitaliener Jannis Kounellis. Er beschimpft Bonami als bösen Revisionisten, der wie ein Diktator bestimme, was Kunst Italiens in den letzten 40 Jahren an Bedeutendem hervorgebracht habe. Francesco Bonami kann diese Kritik nicht nachvollziehen:

    "Italien riskiert heute, in allen Bereichen, zu einem peripheren Land zu werden. Auch in der Kunstszene. Deshalb meine Bestandsaufnahme, die sehr subjektiv ist. So schloss ich aus meiner Ausstellung zum Beispiel Mimmo Paladino aus. Die von ihm repräsentierte Transavanguardia, die Malerei des Neo-Expressionismus, hat meiner Meinung nach nie Wurzeln geschlagen, deshalb ist sie für mich nicht wichtig genug. Das hat natürlich viele verärgert. Ich muss halt damit leben als nicht sympathisch zu gelten."

    Doch was zeigt die von vielen Kunstkritikern und Künstlern scharf kritisierte Ausstellung, die der Kunsthistoriker Achille Bonita Oliva, der den Begriff der Transavanguardia schuf, als "schlecht und mies" aburteilt?

    Gleich am Eingang in den Palazzo Grassi, im überdachten immensen Innenhof, fasziniert "All", ein Werk von Maurizio Cattelan von 2008: Zu sehen sind neun Marmorskulpturen, die in Säcke verschlossene menschliche Körper darstellen. Tote, die von Ordnungskräften in Plastiksäcke gepackt wurden. Cattelan verbinde, meint Bonami, wie nur wenige andere Künstler der letzten 40 Jahre die Begriffe Tradition - die in ihrer handwerklichen Perfektion an barocke Genauigkeit erinnernden Marmorskulpturen - und Revolution - der politische Gehalt des Werkes.

    Bonami wählte als Poster und als Titelfoto des Ausstellungskataloges eine Zeichnung von Francesco Clemente aus dem Jahr 1971. Sie zeigt einen schlanken Mann, der seine linke Hand zur geballten Faust hebt. Diese eindeutig politische Anspielung sei aber nichts anderes, so die Kritiker Bonamis, als die zur reinen Dekoration verkommene revolutionäre Kunst - denn der Ausstellungskurator habe sich nicht darum bemüht, die wirklich revolutionären Kunsttendenzen der letzten Jahrzehnte in seine Ausstellung aufzunehmen. Wie zum Beispiel gerade die von ihm abgelehnte Transavanguardia.

    Tatsache ist, dass Bonami eher Künstler der klassischen Moderne und nur wenig Zeitgenössisches auswählt - darunter einen späten De Chirico und den als Salonkommunisten verrufenen Renato Guttuso. Der an der römische Hochschule La Sapienza lehrende Kunsthistoriker Maurizio Calvesi bewertet Bonamis Auswahl ausgewogener:

    "Es wurde nicht die klassische Aufteilung in Kunsttendenzen gewählt. Und das ist gut so, denn in diesen Jahrzehnten ging alles irgendwie durcheinander und beeinflusste sich gegenseitig. Die Ausstellung zeigt viel gesellschaftskritische Kunst und damit das Revolutionäre der italienischen Kunstentwicklung: zum Beispiel das an seinem Stiefel aufgehängte Italien in goldener Farbe, ein Werk von Luciano Fabro und die politkritischen Fotos von Tano D’Amico und Letizia Battaglia. Bonami versucht nur einige Tendenzen des künstlerischen Schaffens jener Jahre aufzuzeigen."

    Und ging dabei bewusst subjektiv vor. So subjektiv, dass die Ausstellung, so Bonami, nicht umfassend, sondern anregend sein soll. Zum Diskutieren und Streiten anregen - eine Idee, die dem Ausstellungskurator hundertprozentig gelungen ist.

    Eine umfassende Retrospektive des italienischen Kunstschaffens ab 1968 wird also nicht geboten. Dafür aber Einblicke, die verdeutlichen, dass im Italien den letzten 40 Jahren die internationalen künstlerischen Entwicklungen auf eine ungewohnt unabstrakte Weise rezipiert wurden und werden. Das Darstellende dominiert, das Abstrakt-Metaphysische ist die Ausnahme und beschränkt sich auf die Klassiker der italienischen Moderne wie beispielsweise Lucio Fontana.

    Diese Sichtweise, die bestimmte Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ausgrenzt - vor allem das komplette Ignorieren sämtlicher aktueller Kunstströmungen - , verwundert, verärgert, regt den politisch unkorrekten, aber intellektuell stimulierenden Diskurs über Sinn und Un-Sinn künstlerischer Tendenzen ungemein an.