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Künstlermuse oder Vamp?

Zwar gibt es seit den 70er-Jahren auch eine fertig komponierte Lulu-Fassung. In Essen hat sich Dietrich Hilsdorf aber nun die unvollendete Version von Alban Berg aus den 30er-Jahren vorgenommen.

Von Frieder Reininghaus |
    Sie fängt recht konventionell an, die Geschichte des Luders Lulu in Essen. Sie ist dort in einer recht allgemeinen Wohlbürgerlichkeit des 20. Jahrhunderts angekommen. Durchs Auditorium des Aalto-Theaters wird sie zum Prolog auf der Bühne getragen, vor den Gaze-Vorhang, durch den hindurch sich schemenhaft schon die Wohnung des Medizinalrats abzeichnet. In der soll und will der Maler Walter Schwarz die blonde junge Frau zeichnen, die in Gestalt von Julia Bauer so gar nichts vom Wedekindschen Kindweib hat, sondern im hochgeschlossenen Negligé aus dem Versandhauskatalog eher an eine erfolgreiche Absolventin der Master-Studiengänge Germanistik und Theaterwissenschaft erinnert.

    Wenn dann der Vorhang hochgeht, wird erkennbar, dass Frank Wedekinds und Alban Bergs Protagonisten in umgenutzter Industriearchitektur des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts residieren. Der Maler vergisst sich und seine Arbeit, grapscht die als Nelly Goll mit dem alten Mediziner verheiratete Frau an – der Hausherr keucht heran, bekommt seine Herzattacke und legt sich zum Sterben zu den Zweien ins Bett.

    Die Möbel werden etwas verrückt – man sieht das wie einen Film mit Patina durch Johannes Leiackers raffinierten Vorhang – und Lulu lässt sich als Eva treiben, treibt im Wechselspiel mit ihrem Primärliebhaber, dem Chefredaktor Dr. Schön, ihren neuen Mann, den plötzlich auf wundersame Weise erfolgreichen Maler, zum Selbstmord. Andreas Hermann gestaltet dessen Rolle überzeugend agil und singt schöner, als er malt.
    Im Wesentlichen ist die Wohn- und Arbeitslandschaft des unglücklichen Künstlers auch die des Machtmenschen Schön, den Lulu sich als Dritten zum Mann nimmt. Kurzfristig vermag sie dank ihrer Reize die Machtverhältnisse umzudrehen und ihrer Umwelt ihren launischen Willen aufzunötigen. Mag die Tötung von Schöns erster Frau, der Mutter des Komponisten Alwa, der bei Lulu in die Fußstapfen des Vaters tritt, noch als Akt präventiver Notwehr der Geliebten aus der Gosse angesehen werden – die Ausschaltung von Schön mit dessen eigenem Revolver wird von Dietrich Hilsdorf als reiner Notwehr-Akt dargestellt. Aber gerade seinetwegen, so tickt die Justiz nun einmal, muss sie ins Gefängnis. Die Männer, die es auf sie abgesehen haben, warten auf sie und auf die Gefangenenbefreiung, die Gräfin Geschwitz organisiert (sie will Lulu auch haben – und in gewisser Weise bekommt sie sie auch).

    Die Protagonistin von Lust und Elend, aus dem Knast freigekommen – das ist die Pointe von Hilsdorfs Inszenierung – wird zu den Klängen der Lulu-Suite im jetzt leergeräumten Bett vom wiedererstandenen Dr. Schön mit der Waffe zum Bett geleitet und dort vom ebenfalls auferstandenen Maler mit jenem Tranchiermesser hingerichtet, mit dem er sich selbst die Kehle durchgeschnitten hat.

    So rundet sich die gediegene Inszenierung, die mit dem pauschalen Hinweis auf "die Männer" als Täter eine mäßig originelle Wendung erhielt, nicht eben auf sensationelle Weise. Auch dass Lulus Leben zunehmend in der bürgerlichen Öffentlichkeit stattfindet, ist ja inzwischen fast ein Konstante in den "Lulu"-Produktionen: Während 'man' die Haftzeit abwartet, tapern Neugierige an den Bildern aus der Schwarzschen Werkstatt vorbei, als wäre das Eigenheim des Dr. Ludwig Schön bereits zum Museum aufbereitet wie Wohnung und Praxisräume von Dr. Freud in Wien. Der von Friedrich Cerha vollendete 3. Akt der Oper, das ausladende Paris-Tableau und das Bild vom trostlosen Tod in einer Londoner Dachkammer, entfallen.

    Stefan Soltesz, der Essener Opernintendant, der als Dirigent gerne für drastische Effekte aus dem Orchestergraben sorgt, liefert diesmal eine sehr geschmeidige, oft zurückgenommene Interpretation, die den Sängern sehr entgegenkommt.