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Künstlerpaar Kelly Copper und Pavol Liska
"Das Leben wird Teil der Kunst"

Die Amerikaner Kelly Copper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma haben schon immer versucht, die Grenze zwischen Theater und Wirklichkeit zu verwischen. Jetzt verwischen sie mit ihrem Projekt "Germany – Year 2071" die Grenze zwischen Theater und Film. "Der Film erlaubt es uns, die ganze Welt zur Bühne zu machen", sagte Kelly Copper im Corso-Gespräch.

Kelly Copper und Pavol Liska im Gespräch mit Oliver Kranz | 11.07.2016
    Kelly Copper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma
    Kelly Copper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma (dpa / picture alliance / Eventpress Hoensch)
    Oliver Kranz: Sie sind beide Theaterleute und drehen jetzt in Berlin und Köln einen Film. Die Dreharbeiten in Berlin laufen im Rahmen des Festivals "Foreign Affairs", das eigentlich ein Theaterfestival ist. Was wird da präsentiert? Sind die Dreharbeiten die eigentliche Performance?
    Pavol Liska: Genau. Wenn man einen Film dreht, ist jede Szene eine kleine Performance. Deswegen passt das, was wir machen, auch ganz gut ins Festivalprogramm: Wir machen Theater und filmen es.
    Kelly Copper: Das Besondere ist, dass der Film es uns erlaubt, die ganze Welt zur Bühne zu machen. Wir drehen ja draußen und nicht im Theater. Alles, was geschieht, wird Teil unserer Performance – egal ob es regnet oder im Hintergrund überraschend ein Fenster aufgeht. Das Leben wird Teil der Kunst. Das ist eine ganz andere Theatererfahrung als beim Inszenieren eines fertigen Textes - eine weniger kontrollierte Theatererfahrung.
    "Wir haben viel von den Problemen mitgekriegt, mit denen Europa zurzeit konfrontiert ist"
    Kranz: Der Titel des Films ist "Deutschland im Jahr 2071". Warum haben Sie die Handlung in die Zukunft verlegt?
    Copper: Wir sind eingeladen worden, in Köln und Berlin zu arbeiten, deshalb haben wir nach einem Thema gesucht, das für beide Städte gleich wichtig ist. Bei der Recherche sind uns die vielen Baustellen aufgefallen. Überall in Köln und Berlin kommen merkwürdige Rohre aus dem Boden. Es qualmt und zischt – das ist für uns eine Science-Fiction-Szenerie.
    Liska: Im Film geht es um zwei Leute, die die Probleme lösen wollen, die es im Jahr 2071 in Deutschland gibt. Es gibt zum Beispiel ein Sumpfmonster. Berlin wurde in einer morastigen Gegend gebaut. Da fanden wir es spannend, ein Sumpfmonster zu erfinden, das die Stadt terrorisiert. Außerdem gibt es einen kolonialen Karnevalsverein, der im Geheimen das Land regiert und am Ende kommt es zu einem terroristischen Anschlag auf ein Restaurant.
    Kranz: Ist das Nonsens oder Satire?
    Copper: Als wir hier ankamen, haben wir mit einem Historiker gesprochen und so viele Informationen über Köln und Berlin aufgesaugt, wie möglich. Vor unserer Anreise waren wir in Paris - genau zu dem Zeitpunkt, als dort die Anschläge stattfanden. Dann kamen wir nach Köln und erfuhren von den Ereignissen am Silvesterabend auf der Domplatte. Wir haben viel von den Problemen mitgekriegt, mit denen Europa zurzeit konfrontiert ist, und manches davon spielt auch im Film eine Rolle. Aber wir haben keine einfachen Botschaften. Wichtig ist, dass wir in Köln und Berlin mit möglichst vielen Menschen zusammenarbeiten, die etwas von sich einbringen. Der Film ist für uns nur ein Vorwand, um Leute zusammenbringen zu können und etwas zu machen, das wir alleine nie zustande kriegen würden und das niemand vorhersehen kann. Wir sind also hergekommen, um ein gehöriges Durcheinander zu verursachen.
    "Wir interessieren uns für Menschen"
    Kranz: Sie haben keine Profischauspieler engagiert, sondern arbeiten mit Amateuren. Jeder, der will, kann bei Ihnen mitspielen. Warum?
    Copper: Die Frage wird uns immer wieder gestellt, aber ob wir mit Laien arbeiten oder mit Profis hat uns nie interessiert. Wir interessieren uns für Menschen. Jemand, der in seinem Auftritt nur einen Job sieht, ist nicht der Richtige für uns. Ich habe einen Darsteller gefragt, warum er bei uns mitmacht, und er hat gesagt: "Weil es einfach verrückt ist." Nackt durch die Straßen rennen auf der Flucht vor einem Sumpfmonster - so etwas hätte er noch nie gemacht und wird es wahrscheinlich auch nie wieder tun. Aber die Erfahrung wollte er sich nicht entgehen lassen. Solche Leute suchen wir.
    Die Dreharbeiten dauern jetzt nur noch ein paar Tage. Dann nehmen wir das Material mit nach Hause und machen einen Film draus. Nächstes Jahr werden wir ihn in Deutschland präsentieren. Aber das ist für uns gar nicht so wichtig. Das Spannende sind die Dreharbeiten. Der Film ist nur ein Nebenprodukt.
    Kranz: Sie sind ein Künstlerpaar und arbeiten schon seit 20 Jahren zusammen. Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt?
    Copper: An der Theaterschule. Wir haben am Dartmouth College in New Hampshire studiert. Das war Mitte der 90er-Jahre. Dann gingen wir nach New York und haben ganz verschiedene Sachen gemacht: Wir haben Performances gespielt, Bücher geschrieben, fürs Radio gearbeitet und auch schon vor 20 Jahren einen Film gedreht.
    Das Leben in den Dienst der Kunst stellen
    Kranz: New York hat eine tolle Kunstszene, aber man weiß auch, dass viele Künstler kellnern müssen, um sich finanziell über Wasser zu halten. Wie war das bei Ihnen?
    Copper: Man lebt nicht vom Theater. Das ist in New York einfach nicht üblich. Wir hätten nie gedacht, dass uns das irgendwann gelingen würde. Gut zehn Jahre haben wir unser Geld mit Nebenjobs verdient. Ich habe die Pflanzen in Bürogebäuden gegossen und als Sekretärin gearbeitet, Pavol war beim Wachschutz. Das war völlig normal. Deswegen fragen wir auch nie, ob jemand ein Profikünstler ist oder ein Amateur. Die Frage ist doch nicht, ob man mit Kunst Geld verdient, sondern ob man sein Leben in ihren Dienst stellt…
    Liska: Ich kenne Leute, die im Theater viel verdienen und keine Ahnung haben, und ich kenne Leute, die nichts kriegen und großartig sind. Ich weiß nicht, was ein Profi ist. Ich bin ganz bestimmt keiner.
    Kranz: Im Jahr 2006 haben Sie das Nature Theater of Oklahoma gegründet. Das klingt nach einem großen Ensemble – dabei waren Sie zu zweit. Warum dieser Name?
    Copper: Wir haben einfach einen Namen gebraucht. Das Nature Theater of Oklahoma kommt in einem Roman von Franz Kafka vor. Da heißt es: "In diesem Theater kann jeder mitmachen. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich". Das hat uns gefallen.
    Liska: Das Zitat ist für uns eine Art Leitspruch geworden. Aber wir arbeiten nicht immer gleich. Irgendwann haben wir herausgefunden, dass das, was uns am meisten Spaß macht, nicht die Aufführungen sind, sondern die Proben. Deshalb wollen wir diesen Arbeitsprozess mit dem Publikum teilen. Die Leute sollen kommen und gemeinsam mit uns etwas kreieren, nicht einfach zuschauen, während wir für sie spielen.
    Fantasie des Publikums in Gang setzen
    Kranz: Die wohl berühmteste Aufführung des Nature Theater of Oklahoma war "Live and Times" – ein Stück, an dem Sie sieben Jahre gearbeitet und immer neue Episoden herausgebracht haben. Es beruht auf einem einzigen Telefongespräch, in dem Ihnen eine Schauspielerin ihr Leben erzählt hat. Sie haben das Gespräch aufgeschrieben und den Text von Gymnastik treibenden Schauspielern auf der Bühne aufsagen lassen – in Episode 1 zumindest. In den nächsten Folgen wurde der Text wie ein Krimi gespielt oder wie in der Disko getanzt. Warum funktioniert das? Sie haben den Text mit allen Versprechern und Denkpausen aufgeschrieben…
    Copper: Pavol und ich haben als Theaterautoren angefangen. Wir wollten erreichen, dass die Sprache in unseren Stücken nicht künstlich klingt, sondern so, wie die Leute wirklich sprechen. Das war bei dem transkribierten Telefongespräch der Fall. Seine Wirkung bekam der Text, weil wir ihn mit den Tanzbewegungen kombiniert haben. Das Natürliche stand also neben etwas sehr Künstlichen. Die Fantasie des Publikums wurde in Gang gesetzt – und das ist das, was wir eigentlich immer erreichen wollen. Hier auch.
    Kranz: Sie sind als Theatergruppe viel in Europa unterwegs. Beeinflusst das Ihre Arbeit?
    Copper: Wir haben hier inzwischen ein Publikum und fühlen uns sehr zu Hause. Aber es passieren auch Dinge, die uns daran erinnern, dass das nicht normal ist. Bevor wir hierhergekommen sind, hat das US-Außenministerium eine Reisewarnung herausgegeben, in der es hieß, Amerikaner sollten Menschenansammlungen in Europa meiden. Das ist verrückt. Schließlich versuchen wir mit unserem Projekt, Menschenansammlungen zu provozieren. Die Welt ist ein gefährlicher Ort. Vor diesem Problem kann man nicht weglaufen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.