Sonntag, 28. April 2024

Archiv


Künstlerseele aus der ehemaligen DDR

Petra Morsbach entwickelt in ihrem neuen Roman um die Figur des Henry Steiger eine facettenreiche Geschichte der Rolle der Literatur und der Lyrik in der DDR. Es ist eine garstige kleine Studie über das Verhältnis von Kunst, Künstler und Gesellschaft im Allgemeinen.

Von Michael Schmitt | 21.08.2013
    "Henry, die Leute halten Dein Gejammer für Integrität. Gerade deshalb hätte Dein Wort Gewicht. Denk doch zur Abwechslung mal nicht nur an Dich." – So wird Henry Steiger gemahnt, als es die DDR noch gibt und er als gefeierter Lyriker, dem alle wesentlichen Preise zuerkannt worden sind, eine gesellschaftspolitische Rolle einnehmen könnte. "Henry, Dir ist schwer zu helfen", musst er sich rund ein Jahrzehnt später von einer in westdeutschen Verhältnissen aufgewachsenen Schriftstellerin sagen lassen, weil er immer noch jammert, die Erfolge aber lange zurückliegen. Dazwischen: die Wende, der Untergang vieler DDR-Verlage, die Abwendung von jener Lyrik oder Prosa, deren Widerständigkeit gegen den real existierenden Sozialismus vor 1989 als Markenzeichen und danach bald nur mehr als Nachhall einer überwundenen Zeit betrachtet worden ist.

    "Wir haben die Macht des Geldes unterschätzt ...", räsoniert Henry daher immer wieder in dem Künstlerhaus, in der man ihm ein Stipendium gewährt hat. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, es ist zudem die, die oft rituell beklagt wird – die andere Hälfte, die Stickigkeit des DDR-Literaturbetriebs, die Halbherzigkeit oder gefühlte Ohnmacht mancher Widerständler, das Desinteresse an einer politisch exponierten Position bei einem wie Henry Steiger – sie sind die eigentlichen Themen in Petra Morsbach neuem Roman, der "Dichterliebe" heißt, und nicht nur die politische Schwäche seines Helden auslotet.

    Die Schöpferkraft von Henry lässt zu wünschen übrig. Die Auflagen sind gesunken, ein Verleger rät ihm, es doch mal mit einem Roman zu versuchen, wenn es mit der Lyrik nicht mehr klappe. Henry aber trinkt vor allem billigen Rotwein und wird nicht müde, in verletzender, egozentrischer Weise, seine eigenen überkommenen Vorstellungen von Sprachkunst und Lyrik gegen Jüngere oder gegen vermeintliche Konkurrenten in Stellung zu bringen. Und dazu gibt es in einer Künstlerenklave reichlich Gelegenheit, da viele Dichter und andere Künstler eng nebeneinander ihre Stipendien abwohnen und sich im Dialog auch noch gegenseitig inspirieren sollen.

    Ist Henry also ein armes Schwein oder ein unerträglich arroganter alter Säufer, dem man am Besten aus dem Weg gehen sollte? Er ist beides – und zu Beginn des neuen Romans von Petra Morsbach ist er vor allem eine lächerliche Gestalt, die ein paar Dutzend Seiten lang in offensichtlich satirischer Absicht beobachtet wird. Kaum jemanden um sich herum will er ernst nehmen, allenfalls mit dem Leiter des Hauses trinkt er öfter besseren Wein, als er selbst sich leisten könnte. Und inmitten der Zumutung, wie ein Kondensationskern für alles, was ihn umtreibt, gibt es dann noch Sidonie – eine 37-jährige ehemalige Zahnarztgattin, die seit drei Jahren an einem Roman schreibt. Die ihn für eine Kapazität hält, sich in seine Gedichte vertieft und mit ihm über Literatur diskutieren möchte, während er sie anfangs eigentlich nur ins Bett kriegen will und ihre Schreibversuche geradezu verachtet.

    Um diese unsymmetrische Beziehung herum entwickelt Petra Morsbach eine facettenreiche Geschichte der Rolle und der Lage der Literatur und der Lyrik in der DDR und eine garstige kleine Studie über das Verhältnis von Kunst, Künstler und Gesellschaft im Allgemeinen. Es sind vor allem diese beiden Register im Roman, die den Leser packen, wenn die Schilderung der Düsternis von Lesereisen an aschgraue Orte, wo kaum Publikum wartet, und die Beschreibung der literarischen Szene der DDR die satirischen Ambitionen durch Anteilnahme überformt und dem Roman immer spürbarer melancholische, manchmal tragikomische Züge gibt.

    Das steht in der besten Tradition von Petra Morsbachs früheren Romanen, die ihre wechselnden Sujets stets auf der Basis sorgfältiger Recherchen ausmalt und sie in schlichte, genaue Sätze kleidet. Zuletzt etwa die Krise eines schwulen Maestros in "Der Cembalospieler" oder Leben eines Pfarrers in n einer kleinen bayerischen Gemeinde in
    "Gottesdiener".

    Henry ist ein Fossil und ein Hypochonder der deutsch-deutschen Geschichte – er ist egoistisch und rücksichtslos gegenüber jenen, denen er Nähe vermitteln sollte oder gar Verantwortungsgefühl. Aber was davon – und das macht den Roman interessant, denn er gibt keine klare Antwort darauf – ist Henrys eigenes Verschulden? Es ist leicht, sich über einen wie ihn lustig zu machen, oder ihn für seine Haltung und für seine schwachen Seiten zu verachten. Gewiss ist er auch ein Mann der Vergangenheit – aber er bewahrt diese Vergangenheit auch auf, was sonst kaum noch einer tut. Nicht nur in den eigenen Texten, die er immer seltener vortragen kann, sondern auch in all den Gedichten, an die er sich erinnert und die im Roman zitiert werden. Gedichte, die andere, etwa Schriftsteller wie Wolfgang Hilbig, verfasst haben; Gedichte die zu der Zeit, zu der sie entstanden und verbreitet wurden, tatsächlich Kraft hatten, Trostpotenzial und rebellische Untertöne, die jeder empfinden konnte.

    Diese Seite ihres Romans weitet Petra Morsbach wie nebenbei fast schon zu einem kleinen Lesebuch der DDR-Lyrik aus. Und das ist wohl auch der innerste Kern der "Dichterliebe" - die Ehrenerklärung für das literarische Wort, das den Verhältnissen und den persönlichen Mängeln abgerungen worden ist. "Was aber bleibet, stiften die Dichter", sagt Hölderlin – Petra Morsbachs Roman meint dasselbe, schlägt aber profanere Töne an.

    Petra Morsbach: "Dichterliebe", Roman, 288 Seiten, Knaus-Verlag, München, Frühjahr 2013.