Samstag, 11. Mai 2024

Archiv


Künstliches Enzym soll Leben retten

Die seltene Kinderkrankheit Alpha-Mannosidose wird durch ein fehlendes Enzym verursacht. Sie verschlimmert sich stetig und führt oft noch vor dem Erwachsenenalter zum Tode. Bisher war die Krankheit nicht therapierbar. Ein europäisches Forschungsteam unter Leitung des Biochemikers Prof. Paul Saftig von der Kieler Universität hat jetzt aber einen Erfolg versprechenden Ansatz gefunden. Die Europäische Union hat daraufhin sechs Millionen Euro für klinische Tests am Menschen bewilligt.

Von Matthias Günther | 09.02.2011
    Alpha-Mannosidose ist eine Erbkrankheit: Durch eine Mutation fehlt ein bestimmtes Enzym - und damit ein wichtiges Werkzeug im Körper, erklärt der Kieler Biochemiker Paul Saftig:

    "Enzyme kennen wir alle: Als Beigabe zum Beispiel in unseren Waschmitteln sorgt es dafür, dass bestimmte hartnäckige Flecken besser abgebaut werden können. Und genauso hat unser Körper Eiweiße, also spezialisierte Eiweiße, die wir Enzyme nennen. Das sind Werkzeuge unserer Zellen. Und die sorgen unter anderem dafür, dass große Stoffe abgebaut werden können zu kleinen Stoffen, die dann wieder benutzt werden können zum Aufbau neuer wichtiger Dinge in unseren Zellen und in unserem Körper."

    Fehlt beispielsweise das Enzym Alpha-Mannosidase, nach der die Krankheit Alpha-Mannosidose benannt ist, dann kann Zucker nicht abgebaut werden und sammelt sich in den Zellen an. Die Auswirkungen bei den erkrankten Kindern sind gravierend:

    "Das betrifft insbesondere das zentrale Nervensystem, also das Gehirn. Sie sind geistig oft zurückgeblieben, haben Hörschwierigkeiten, die Gesichtsform ist verändert. Es hat aber auch Auswirkungen auf den kompletten Körper, und da kann es zum Beispiel zu Skelett-Veränderungen führen, zu Muskelschwäche, zu viel Schmerzen."

    Viele Patienten sterben, bevor sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Seit zwölf Jahren beschäftigen sich Paul Saftig und sein Team mit dieser Krankheit. Zunächst erforschten sie den Aufbau und die Wirkungsweise des Enzyms, dann erzeugten sie mithilfe der Gentechnik Mäuse, denen das Enzym Alpha-Mannosidase fehlt. Bei den Mäusen zeigten sich ähnliche Symptome wie bei erkrankten Menschen, berichtet Paul Saftig:

    "Die haben zum Teil Verhaltensänderungen - das kann man messen bei Mäusen. Die haben aber auch diese charakteristischen Speicherungen."

    Die Ablagerungen von Zucker im Gewebe - Paul Saftig nennt sie Müll-Ansammlungen. Nach diesem Ergebnis stellten die Wissenschaftler das Enzym außerhalb des Körpers her - und spritzten es den Mäusen. Das Resultat fiel so aus, wie Paul Saftig und seine Mitarbeiter gehofft hatten:

    "Die Mäuse zeigten Verhaltensverbesserungen, und das waren also alles Ergebnisse, die sehr, sehr viel versprechend waren, und dass diese Art von Therapie, die man Enzym-Ersatz-Therapie nennt, sehr, sehr erfolgreich für diese Erkrankung ist."

    Eine naheliegende Idee, räumt Paul Saftig ein: Ein Enzym, das fehlt, wird künstlich hergestellt und gespritzt. Aber so einfach, wie es sich anhört, war es nicht:

    "Wenn wir den Mäusen, aber vielleicht auch den Menschen, dann dieses Enzym spritzen, wollen wir auch, dass es an die richtige Stelle kommt, zu den Zellen, die diese Müll-Ansammlungen haben. Und wenn es an diesen Zellen ankommt, muss es in diese Zellen auch tatsächlich aufgenommen werden und dort dann diese Speicherprodukte abbauen. Und das zum Beispiel haben wir alles mithilfe dieser Mäuse gesehen, dass das tatsächlich alles funktioniert."

    Die Voraussetzungen für klinische Tests an Menschen waren damit erfüllt. Die Europäische Union fördert die Studie mit sechs Millionen Euro. Den ersten von zehn teilnehmenden Kindern und Jugendlichen aus ganz Europa ist das Enzym schon in den Blutkreislauf gespritzt worden, wo es von den Zellen aufgenommen und mit seiner Arbeit beginnen soll: dem Abbau des im Gewebe angesammelten Zuckers. Die Zahl der an Alpha-Mannosidose erkrankten Kinder und Jugendlichen in ganz Europa wird auf 300 geschätzt. Paul Saftig stellt selbst die Frage, ob sich die Forschungsförderung der Europäischen Union dafür lohnt - und sagt:

    "Eine Antwort ist natürlich, dass solche Patienten sonst nie die Möglichkeit hätten, wenn nicht öffentliche Förderung - wie in diesem Fall durch die EU gegeben - das unterstützen würde, eine solche Therapie zu entwickeln. Die andere Antwort ist darauf, dass wir bei der Therapie einer solchen Erkrankung sehr viel lernen über ähnliche Erkrankungen - zum Beispiel in anderen Enzymen - wo ähnliche Ansätze gegebenenfalls genauso Erfolg versprechend sein können. Und das ist tatsächlich der Fall, dass wir da natürlich parallel an weiteren Erkrankungen arbeiten."

    Die klinischen Tests werden drei Jahre dauern. Die Wissenschaftler hoffen, dass der Wirkstoff dann allen an Alpha-Mannosidose erkrankten Patienten zugänglich gemacht werden kann.