Auf der Ostseeinsel Usedom geht ein Sommertag zu Ende. In der Ferne, dem Kaiserbad Heringsdorf schräg gegenüber, locken die Lichter eines Seebades auf der polnischen Insel Wollin: die Lichter von Misdroy.
Tags drauf geht es an Bord. Leichte Winde wehen, als die Fahrt übers Meer beginnt.
"Ja, das Fahrprogramm: Wir haben ungefähr eine Stunde Überfahrtszeit bis Misdroy. Dort angekommen, 10:50 Uhr, geht's dann gleich wieder zurück. Unser Kurs führt uns durch die Pommersche Bucht, einmal quer, an der Hafenstadt Swinemünde vorbei, auch als Oderbucht wird sie ja bezeichnet. Swinemünde liegt hier im Zentrum."
Vor dem Ablegen sitze ich im Büro des Betriebsleiters auf der Landseite der Heringsdorfer Seebrücke. Kapitän Alwin Müller dirigiert seit vielen Jahren die Schiffe. Schon kurz nach dem Ende der DDR hieß es "Leinen los" für den deutsch-polnischen Schiffsverkehr. Den hat Müller mit aufgebaut:
"Es gab recht turbulente Zeiten. Vieles hat sich seit dem EU-Beitritt Polens wesentlich verbessert. Wir haben polnische Vorgesetzte die Deutsche unter sich haben und umgekehrt, das ist ein ganz normales Verhältnis. Da hat also die EU schon viel früher angefangen, als es jetzt politisch vollzogen wurde."
Alwin Müller spricht per Funk mit den Kapitänen, hat die Wetterlage und die Verkaufsartikel für den Bordshop im Blick. Seine Mannschaft ist stark geschrumpft, seit es den Free-Shop nicht mehr gibt. Der polnische EU-Nachbar kann ohne Grenzkontrollen besucht werden.
Die beiden kleinen Schiffe seiner Restflotte sind von Swinemünde aus zu den drei Kaiserbädern unterwegs. Das eine wird Passagiere nach Swinoujscie, Swinemünde, bringen, zur Hafenrundfahrt, Stadtbesichtigung, oder Weiterfahrt nach Szczecin, Stettin, das andere Boot die Pommersche Bucht überqueren, zu dem vierten der Kaiserbäder, nach Miedzyzdroje, Misdroy. Betriebsleiter Alwin Müller :
"Misdroy hatte je eine Seebrücke, die Reste dieser Seebrücke sind dann Anfang der 90er-Jahre durch Sturm verschwunden, die hat sich die See geholt. Und in Polen hatte man so ein Fragment erbaut, Geld reicht nicht, die reichte dann gerade so bis zum Strand und natürlich als Schiffsanleger vollkommen ungeeignet. Das Wasser ist dort knietief gewesen." Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin liegen in Deutschland, Misdroy in Polen, auf der Insel Wollin, der kleineren Schwester von Usedom.
Alwin Müller hat dieses Dreieck verbunden: die Insel Usedom mit Swinemünde und den fünf Brücken auf der deutschen Seite und die Insel Wollin mit dem polnischen Seebad Misdroy und der neuen Seebrücke:
"Die ist 395 Meter lang. Stahl, Beton. Die ist sturmfest gebaut, das heißt sechs Meter über dem Wasserspiegel, damit also nur einen halben Meter niedriger als die Heringsdorfer, die ja die stabilste und wie man so sagt, die Größte in Kontinentaleuropa ist. Und natürlich für die Polen ein absolutes Highlight, weil sie dort natürlich promenieren können und man hat einen wunderschönen Ausblick, wenn man aus fast vierhundert Meter Entfernung denn das Seebad sieht, die Küste, und man kann ja rüber gucken bis nach Usedom."
Seine Reederei hat die Seebrücken gebaut bzw. mitgebaut: fünf auf Usedom und die eine in Misdroy. Sie wurde feierlich eingeweiht und gleich - von der polnischen Bürokratie - wieder geschlossen. Für rund zwei Jahre. Dann lagen alle Genehmigungen vor.
Im Sommer pendelt das kleine Schiff, Baujahr 1980, fünfmal in der Woche zwischen Usedom und Wollin.
Stählerne Pfeiler tragen den Betonsteg der Seebrücke von Misdroy. Fast am Ende der Brücke steht Barbara Michalowska. Sie schwenkt ihren dunkelblauen Regenschirm mit Katzenmotiven. Das Erkennungszeichen.
"Die Seebrücke, das ist unser Stolz, weil Swinoujscie - das ist unser Konkurrenzkurort hat keine Seebrücke und wir haben. Das ist immer für uns wichtig gewesen, denn es geht um die Schiffe, die können hier anlegen, wir können nach Swinoujscie, nach Ahlbeck, nach Heringsdorf, nach Bansin von hier fahren. Im Sommer, wenn es warm ist, am meisten am Wochenende, da ist hier alles voll von Gästen, dann liegen sie wie die Heringe hier am Strand."
Nach der Begrüßung passieren wir die breite Halle auf der Landseite mit den Cafés und den Auslagen der Strandartikelhändler.
Barbara Michalowska bleibt bei Zbignew Kaminski stehen, einem jungen Mann in kurzen Hosen, der neben Ansichtskarten und Souvenirs Bernsteinschmuck anbietet. Bernstein lässt sich auf Usedom kaum noch finden, wie kommt der goldgelbe Schmuckstein an den Wolliner Strand?
"Das ist vom Wind abhängig. Wenn er von Norden kommt, dann bringt er einige Bernsteinteile."
"Zur Schulzeit fand ich mehr. Anstatt zur Schule zu gehen, habe ich Bernstein gesucht. Das ist dann mein Beruf geworden. Es reicht mir zum Überleben. Ich habe es schon im Ohr, wie das Wetter wird, ich weiß, wann es ruhig sein wird. Dann muss ich der Erste sein, der sammelt. Obwohl: Man kann auch manchmal der Erste sein und doch nichts finden, weil kein Bernstein angeschwemmt wurde." Wind spielt eine Rolle, nicht nur beim Bernstein, er gestaltet auch die Küste - ganz nach Belieben. Wie er das macht, zeigt mir Barbara Michalowska. Sie vergleicht:
"Der Strand ist heute nicht so breit, weil in den letzten Tagen ein starker Wind von Norden wehte und deshalb wurde er leider mit Wasser bedeckt, aber er kann auch doppelt so breit sein, wenn der Wind von Süden weht. Na und Sand haben wir sehr feinen."
Auf dem Weg zur Promenade drehen wir uns noch einmal um. Der Eingang zur Seebrücke liegt hinter uns, eine flache breite Halle mit Türmen zu beiden Seiten.
"Wir stehen vor dem Eingang zur Seebrücke. Auf einem alten Bild können wir sehen, wie das früher war und jetzt ist die Halle neu gebaut, aber die zwei Türmchen, die hier waren, sind geblieben und das ist das typische Bild hier von Miedzysdroje. Dann gehen wir weiter."
Zielstrebig überqueren Barbara und ich den grünen Vorplatz und erreichen die vier Kilometer lange Seepromenade.
"Die Promenade, das ist diese Straße. Jeder muss sich mindesten einmal am Tage zeigen. Sehen und gesehen werden, das ist Pflicht, wenn man hier als Kurgast ist."
Ich höre von der 1919 gegründeten Balten-Schule, von einem Gast- und Zollhaus, von einer alten Eiche und den Kirchen, schaue mir die neu eingerichtete Fußgängerzone an und bunte Reklametafeln.
"Hier sind die Werbungen für die neu gebauten Häuser. Das ist alles im Wald. So gegen 6000, 7000 Zloty wird ein Quadratmeter kosten. Das sind Appartements und wer Geld hat, sollte das hier lassen."
Wir betreten ein Haus über die Freitreppe zwischen bepflanzten Terrassen. Innen steigen wir ein paar Stufen hoch. Der Treppenflur erinnert an ein Wohnhaus, doch dann stehen wir einer kleinen Kapelle. In dem viereckigen Raum macht mich Barbara auf eine Ikone aufmerksam, die an der Wand aufgehängt ist. Sie zeigt einen Bischof aus Franken:
"Dieses Bild ist für die Katholiken sehr wichtig, weil das soll Otto von Bamberg zeigen, der hat die Christianisierungsmission in Pommern 1124/25 gemacht. Er wurde eingeladen, der polnische König hat ihn eingeladen und er hatte die Mission mit Erfolg gemacht, weil viele andere Missionäre leider getötet wurden und hier haben wir eines von den seltenen Bildern."
Die Nonnen, die für frische Blumen sorgten, gehören zu den Barmherzigen Schwestern vom hl. Karl Borromäus, einer Ordensgemeinschaft, die sich der Krankenpflege widmet.
Im Eckladen von Julianna Rogowska tauchen wir weiter in die Geschichte ein. Die temperamentvolle Frau erzählt von deutschen Zeit des Seebades, von Kaiser, Kirchen und Fabriken.
Vor einigen Jahren brachte man ihr verklumptes Papier, von der Kugel auf dem Glockenturm einer Kirche. Der war repariert worden. Julianna Rogowska setzte die Teile vorsichtig zusammen. Bald hatte sie eine Zeitung aus Berlin mit der Zeichnung einer Zementfabrik vor sich, die stammte aus dem Jahre 1860.
"Diese Zementfabrik hat die Familie Johannes Quistorp (Lubin) gebaut und in den Dokumenten fand ich unter anderem die Schule beschrieben, die man dort gebaut hatte. Das habe ich ins Polnische übersetzt und parallel der Familie nach Deutschland geschickt, die haben sich bedankt." Sie hatte Hildburg Quistorp gefunden, die Großnichte von Johannes Quistorp, der einst Fabriken Lebbin und Stettin leitete. Das war nicht alles. Sie erfuhr, von der Verwandtschaft der Familien Quistorp und Wernher von Braun. Der Raumfahrt - und Raketenpionier war verheiratet mit Maria, einer geborenen von Quistorp.
"Das alles habe ich schon in einer Schule in Wapniza gezeigt, außerdem ist hier ein Bild vom deutschen Kaiser Friedrich-Wilhelm dem Vierten, der war zur Einweihung der Kirche in Lubin gewesen."
Der Kaiser habe die Kinder armer Familien von sieben verschiedenen Schulen finanziell unterstützt, berichtet Frau Rogowska, und auch die Kirche in Misdroy mitfinanziert.
Eigentlich will ich nun weiter, hinausgehen auf die Straße. Da erzählt Julianna Rogowska noch ein wenig aus ihrem Leben, sie sei gelernte Mechanikerin für Schiffsmotoren, habe auf Schiffen gearbeitet.
"Mein Vater war bei der Armee, kam als Umsiedler hier her und in dem Haus haben noch Deutsche gewohnt. Ich habe jetzt die Deutschen in Deutschland schon zweimal besucht und ich verstehe Schmerz und Leid der deutschen Familien, die ihre Heimat hier verlassen mussten, aber mein Vater hatte seine Heimat auch verlassen müssen, die liegt im jetzigen Weißrussland. Ich möchte alles wissen und verstehen, wir sind auch nicht freiwillig hierher gekommen, aber so ist das gewesen."
Auf der Höhe einer ansteigenden Grünanlage residiert die Direktion des Wolliner Nationalparks. Der umschließt den Badeort, erstreckt sich über weite Teile der Insel und ist eine Attraktion für Kinder- und Seniorengruppen, Freizeitsportler und Naturliebhaber.
Hier treffe ich Bogdan Jakuczun, den Direktor. Ein untersetzter, freundlicher Mann mittleren Alters mit Schnauzbart im grünen Rangerhemd.
"'Guten Tag' ist möglich, das ist alles von meinem Deutsch."
Er hockt in dem engen Zimmer hinter mehreren Stapeln mit Firmenpapieren, Berichten und Mitteilungen. An der Wand neben der Tür hängt eine riesige Wolliner Landkarte. Sein Thema sind die Wisente. Polen hat viel getan, um diese größten Säugetiere Europas zu retten.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren sie fast ausgerottet, jetzt leben fast 3000 Tiere in Europa.
"Die Wisente lebten in ganz Europa, vom Ural bis Gibraltar, es war ein Tier, das in Kriegszeiten wichtig war, weil es für die Soldaten viel Fleisch bedeutete. Aus diesem Grund wurde es fast ausgerottet.
Die älteste Nachricht über die Wisente stammt aus Pommern. König Boleslaw hatte gegen die Deutschen gekämpft und brauchte Nahrung für seine Ritter. Er veranstaltete eine Jagd.
Bei dieser Jagd wurde einer der Ritter von einem Wisent so verletzt, dass er starb.
Das wurde beschrieben und gilt als Beweis dafür, dass in dieser Gegend Wisente lebten."
Seit 1976 gibt es auf der Insel Wollin ein Wisentgehege, da ist Platz für sieben bis acht Tiere. Hätten die Polen über die Jahre alle Wisente behalten, wären es jetzt über 60, rechnet mir Jakuzun vor. Sie hätten vier Tiere nach Prätenow auf der Insel Usedom verschenkt. Eine Konkurrenz durch die deutschen Nachbarn sehe er nicht. Vom Laufsteg vor dem Gehege aus machen wir uns kurz bekannt, die majestätischen, dunkelbraunen Wisente und ich.
Nach einer abenteuerlichen Taxifahrt zum Gehege in den Wald hinein und wieder heraus, führt mich Barbara Michalowska auf die Strandpromenade von Misdroy zurück. Dort wird viel gebaut, auch in der Saison:
"Das ist wichtig für die Touristen. Wir hoffen, dass die neuen Häuser das besser machen werden, nicht nur die einfachen Buden, das war so hässlich und wir möchten vernünftig bebaut haben. Die Touristen werden zufrieden sein und das ist das Wichtigste. Na und hier haben wir auch wieder unsere schönen Blumenflächen, und jetzt sind wir gleich beim Hotel 'Aurora'."
Das "Aurora" ist ein Familienunternehmen. Die zwei Etagen wurden kürzlich um weitere zwei aufgestockt. Die denkmalgeschützte Fassade soll erhalten bleiben, innen wurde modernisiert, Wellness und Spabereiche eingerichtet. Das Ziel ist der Aufstieg in der Hotelkategorie, von drei auf vier Sterne. Dafür sei noch einiges geplant, sagt Ewa Tereszczyk-Tyszkiewicz. Zusammen mit der jungen Frau nehmen wir an einem der vorderen Restauranttische Platz.
Das Hotel soll im nächsten Jahr neu verputzt werden. Dann fügt es sich glanzvoll in die erste Häuserreihe ein, hofft die Mitbesitzerin:
"Sie sehen nur diesen Teil der Promenade mit Blumen geschmückt, von der Seebrücke bis zu dem großen Hotel "Amber Baltic". Weiter ist noch nichts gemacht.
Wir hoffen, dass es im nächsten Jahr weiter geht, auch bei der Beleuchtung und mit Blumen. Das macht doch einen guten Eindruck."
Tatsächlich fällt auf, dass in Misdroy viel investiert wurde, von staatlicher wie von privater Hand. Das war lange nicht so. Und Ewa Tereszczyk-Tyszkiewicz legt Wert auf die Unterschiede zur Architektur der Usedomer Kaiserbäder in Deutschland.
"Wir bewirtschaften das hier etwas anders. Ähnlichkeiten mit Heringsdorf oder Ahlbeck werden sie hier nicht finden.
Wir haben vieles ganz neu gemacht und dort ist es so geblieben, wie es früher war.
Bei uns - kann man sagen - entstanden ganz neue Sachen!"
Genau gegenüber ist die Seebrücke. Nicht alle Schiffs-Passagiere, die aus Deutschland herüber kommen, wollen promenieren, manche gehen ins Hotel geradezu. Und fühlen sich dort herzlich willkommen.
Die Geschichte des malerisch im Grünen gelegenen Ostseebades geht bis ins Jahr 1835 zurück. Damals besuchten vor allem gut betuchte Gäste den für sein jodhaltiges heilsames Klima bekannten deutschen Bade- und Kurort. Misdroy, das im 15. Jahrhundert noch ein kleines Fischerdorf war, befindet sich auf der Insel Wollin mitten im polnischen Nationalpark, umgeben von wunderschönen Wäldern und Seen, die zu Wanderungen und Radtouren einladen. Einen Teil konnte ich in der Begleitung von Barbara Michalowska kennenlernen. Wo, frage ich sie nun, wo gefällt ihr Misdroy am besten ?
"Wenn wir am Strand sind, bewundern wir die Ostsee, die ist jeden Tag anders, mal ruhig, mal stürmisch. Wenn wir im Wald wandern, da können wir auch viel von der Natur bewundern und wir besuchen auch unsere Wisente in unserem Reservat. Na, und ich finde einfach keinen schöneren Ort als hier Miedzyzdroje. Ich sage, die Promenade ist interessant, unser Kurpark ist interessant, Kulturhaus."
Ich nehme Abschied von dem Städtchen, das als die "Perle der Ostsee" bezeichnet wird, von Misdroy mit dem langen, feinsandigen Strand, mit Cafés, Restaurants, Pubs und Diskotheken, von der Strandpromenade, vom Anblick alter Villen. Am schönsten, sagt mir Barbara Michalowska zu Abschied, ist es abends auf der Seebrücke. Dort bietet sich nach einem sonnigen Tag ein traumhafter Sonnenuntergang:
"Wenn gute Sicht ist, dann sehen wir den Leuchtturm in Swinoujscie, weiter sehen wir - in erster Linie - die Seebrücke in Heringsdorf. Wir können auch, wenn wir dort sind, mit Handy anrufen über das polnische Netz. So ist das manchmal."
Tags drauf geht es an Bord. Leichte Winde wehen, als die Fahrt übers Meer beginnt.
"Ja, das Fahrprogramm: Wir haben ungefähr eine Stunde Überfahrtszeit bis Misdroy. Dort angekommen, 10:50 Uhr, geht's dann gleich wieder zurück. Unser Kurs führt uns durch die Pommersche Bucht, einmal quer, an der Hafenstadt Swinemünde vorbei, auch als Oderbucht wird sie ja bezeichnet. Swinemünde liegt hier im Zentrum."
Vor dem Ablegen sitze ich im Büro des Betriebsleiters auf der Landseite der Heringsdorfer Seebrücke. Kapitän Alwin Müller dirigiert seit vielen Jahren die Schiffe. Schon kurz nach dem Ende der DDR hieß es "Leinen los" für den deutsch-polnischen Schiffsverkehr. Den hat Müller mit aufgebaut:
"Es gab recht turbulente Zeiten. Vieles hat sich seit dem EU-Beitritt Polens wesentlich verbessert. Wir haben polnische Vorgesetzte die Deutsche unter sich haben und umgekehrt, das ist ein ganz normales Verhältnis. Da hat also die EU schon viel früher angefangen, als es jetzt politisch vollzogen wurde."
Alwin Müller spricht per Funk mit den Kapitänen, hat die Wetterlage und die Verkaufsartikel für den Bordshop im Blick. Seine Mannschaft ist stark geschrumpft, seit es den Free-Shop nicht mehr gibt. Der polnische EU-Nachbar kann ohne Grenzkontrollen besucht werden.
Die beiden kleinen Schiffe seiner Restflotte sind von Swinemünde aus zu den drei Kaiserbädern unterwegs. Das eine wird Passagiere nach Swinoujscie, Swinemünde, bringen, zur Hafenrundfahrt, Stadtbesichtigung, oder Weiterfahrt nach Szczecin, Stettin, das andere Boot die Pommersche Bucht überqueren, zu dem vierten der Kaiserbäder, nach Miedzyzdroje, Misdroy. Betriebsleiter Alwin Müller :
"Misdroy hatte je eine Seebrücke, die Reste dieser Seebrücke sind dann Anfang der 90er-Jahre durch Sturm verschwunden, die hat sich die See geholt. Und in Polen hatte man so ein Fragment erbaut, Geld reicht nicht, die reichte dann gerade so bis zum Strand und natürlich als Schiffsanleger vollkommen ungeeignet. Das Wasser ist dort knietief gewesen." Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin liegen in Deutschland, Misdroy in Polen, auf der Insel Wollin, der kleineren Schwester von Usedom.
Alwin Müller hat dieses Dreieck verbunden: die Insel Usedom mit Swinemünde und den fünf Brücken auf der deutschen Seite und die Insel Wollin mit dem polnischen Seebad Misdroy und der neuen Seebrücke:
"Die ist 395 Meter lang. Stahl, Beton. Die ist sturmfest gebaut, das heißt sechs Meter über dem Wasserspiegel, damit also nur einen halben Meter niedriger als die Heringsdorfer, die ja die stabilste und wie man so sagt, die Größte in Kontinentaleuropa ist. Und natürlich für die Polen ein absolutes Highlight, weil sie dort natürlich promenieren können und man hat einen wunderschönen Ausblick, wenn man aus fast vierhundert Meter Entfernung denn das Seebad sieht, die Küste, und man kann ja rüber gucken bis nach Usedom."
Seine Reederei hat die Seebrücken gebaut bzw. mitgebaut: fünf auf Usedom und die eine in Misdroy. Sie wurde feierlich eingeweiht und gleich - von der polnischen Bürokratie - wieder geschlossen. Für rund zwei Jahre. Dann lagen alle Genehmigungen vor.
Im Sommer pendelt das kleine Schiff, Baujahr 1980, fünfmal in der Woche zwischen Usedom und Wollin.
Stählerne Pfeiler tragen den Betonsteg der Seebrücke von Misdroy. Fast am Ende der Brücke steht Barbara Michalowska. Sie schwenkt ihren dunkelblauen Regenschirm mit Katzenmotiven. Das Erkennungszeichen.
"Die Seebrücke, das ist unser Stolz, weil Swinoujscie - das ist unser Konkurrenzkurort hat keine Seebrücke und wir haben. Das ist immer für uns wichtig gewesen, denn es geht um die Schiffe, die können hier anlegen, wir können nach Swinoujscie, nach Ahlbeck, nach Heringsdorf, nach Bansin von hier fahren. Im Sommer, wenn es warm ist, am meisten am Wochenende, da ist hier alles voll von Gästen, dann liegen sie wie die Heringe hier am Strand."
Nach der Begrüßung passieren wir die breite Halle auf der Landseite mit den Cafés und den Auslagen der Strandartikelhändler.
Barbara Michalowska bleibt bei Zbignew Kaminski stehen, einem jungen Mann in kurzen Hosen, der neben Ansichtskarten und Souvenirs Bernsteinschmuck anbietet. Bernstein lässt sich auf Usedom kaum noch finden, wie kommt der goldgelbe Schmuckstein an den Wolliner Strand?
"Das ist vom Wind abhängig. Wenn er von Norden kommt, dann bringt er einige Bernsteinteile."
"Zur Schulzeit fand ich mehr. Anstatt zur Schule zu gehen, habe ich Bernstein gesucht. Das ist dann mein Beruf geworden. Es reicht mir zum Überleben. Ich habe es schon im Ohr, wie das Wetter wird, ich weiß, wann es ruhig sein wird. Dann muss ich der Erste sein, der sammelt. Obwohl: Man kann auch manchmal der Erste sein und doch nichts finden, weil kein Bernstein angeschwemmt wurde." Wind spielt eine Rolle, nicht nur beim Bernstein, er gestaltet auch die Küste - ganz nach Belieben. Wie er das macht, zeigt mir Barbara Michalowska. Sie vergleicht:
"Der Strand ist heute nicht so breit, weil in den letzten Tagen ein starker Wind von Norden wehte und deshalb wurde er leider mit Wasser bedeckt, aber er kann auch doppelt so breit sein, wenn der Wind von Süden weht. Na und Sand haben wir sehr feinen."
Auf dem Weg zur Promenade drehen wir uns noch einmal um. Der Eingang zur Seebrücke liegt hinter uns, eine flache breite Halle mit Türmen zu beiden Seiten.
"Wir stehen vor dem Eingang zur Seebrücke. Auf einem alten Bild können wir sehen, wie das früher war und jetzt ist die Halle neu gebaut, aber die zwei Türmchen, die hier waren, sind geblieben und das ist das typische Bild hier von Miedzysdroje. Dann gehen wir weiter."
Zielstrebig überqueren Barbara und ich den grünen Vorplatz und erreichen die vier Kilometer lange Seepromenade.
"Die Promenade, das ist diese Straße. Jeder muss sich mindesten einmal am Tage zeigen. Sehen und gesehen werden, das ist Pflicht, wenn man hier als Kurgast ist."
Ich höre von der 1919 gegründeten Balten-Schule, von einem Gast- und Zollhaus, von einer alten Eiche und den Kirchen, schaue mir die neu eingerichtete Fußgängerzone an und bunte Reklametafeln.
"Hier sind die Werbungen für die neu gebauten Häuser. Das ist alles im Wald. So gegen 6000, 7000 Zloty wird ein Quadratmeter kosten. Das sind Appartements und wer Geld hat, sollte das hier lassen."
Wir betreten ein Haus über die Freitreppe zwischen bepflanzten Terrassen. Innen steigen wir ein paar Stufen hoch. Der Treppenflur erinnert an ein Wohnhaus, doch dann stehen wir einer kleinen Kapelle. In dem viereckigen Raum macht mich Barbara auf eine Ikone aufmerksam, die an der Wand aufgehängt ist. Sie zeigt einen Bischof aus Franken:
"Dieses Bild ist für die Katholiken sehr wichtig, weil das soll Otto von Bamberg zeigen, der hat die Christianisierungsmission in Pommern 1124/25 gemacht. Er wurde eingeladen, der polnische König hat ihn eingeladen und er hatte die Mission mit Erfolg gemacht, weil viele andere Missionäre leider getötet wurden und hier haben wir eines von den seltenen Bildern."
Die Nonnen, die für frische Blumen sorgten, gehören zu den Barmherzigen Schwestern vom hl. Karl Borromäus, einer Ordensgemeinschaft, die sich der Krankenpflege widmet.
Im Eckladen von Julianna Rogowska tauchen wir weiter in die Geschichte ein. Die temperamentvolle Frau erzählt von deutschen Zeit des Seebades, von Kaiser, Kirchen und Fabriken.
Vor einigen Jahren brachte man ihr verklumptes Papier, von der Kugel auf dem Glockenturm einer Kirche. Der war repariert worden. Julianna Rogowska setzte die Teile vorsichtig zusammen. Bald hatte sie eine Zeitung aus Berlin mit der Zeichnung einer Zementfabrik vor sich, die stammte aus dem Jahre 1860.
"Diese Zementfabrik hat die Familie Johannes Quistorp (Lubin) gebaut und in den Dokumenten fand ich unter anderem die Schule beschrieben, die man dort gebaut hatte. Das habe ich ins Polnische übersetzt und parallel der Familie nach Deutschland geschickt, die haben sich bedankt." Sie hatte Hildburg Quistorp gefunden, die Großnichte von Johannes Quistorp, der einst Fabriken Lebbin und Stettin leitete. Das war nicht alles. Sie erfuhr, von der Verwandtschaft der Familien Quistorp und Wernher von Braun. Der Raumfahrt - und Raketenpionier war verheiratet mit Maria, einer geborenen von Quistorp.
"Das alles habe ich schon in einer Schule in Wapniza gezeigt, außerdem ist hier ein Bild vom deutschen Kaiser Friedrich-Wilhelm dem Vierten, der war zur Einweihung der Kirche in Lubin gewesen."
Der Kaiser habe die Kinder armer Familien von sieben verschiedenen Schulen finanziell unterstützt, berichtet Frau Rogowska, und auch die Kirche in Misdroy mitfinanziert.
Eigentlich will ich nun weiter, hinausgehen auf die Straße. Da erzählt Julianna Rogowska noch ein wenig aus ihrem Leben, sie sei gelernte Mechanikerin für Schiffsmotoren, habe auf Schiffen gearbeitet.
"Mein Vater war bei der Armee, kam als Umsiedler hier her und in dem Haus haben noch Deutsche gewohnt. Ich habe jetzt die Deutschen in Deutschland schon zweimal besucht und ich verstehe Schmerz und Leid der deutschen Familien, die ihre Heimat hier verlassen mussten, aber mein Vater hatte seine Heimat auch verlassen müssen, die liegt im jetzigen Weißrussland. Ich möchte alles wissen und verstehen, wir sind auch nicht freiwillig hierher gekommen, aber so ist das gewesen."
Auf der Höhe einer ansteigenden Grünanlage residiert die Direktion des Wolliner Nationalparks. Der umschließt den Badeort, erstreckt sich über weite Teile der Insel und ist eine Attraktion für Kinder- und Seniorengruppen, Freizeitsportler und Naturliebhaber.
Hier treffe ich Bogdan Jakuczun, den Direktor. Ein untersetzter, freundlicher Mann mittleren Alters mit Schnauzbart im grünen Rangerhemd.
"'Guten Tag' ist möglich, das ist alles von meinem Deutsch."
Er hockt in dem engen Zimmer hinter mehreren Stapeln mit Firmenpapieren, Berichten und Mitteilungen. An der Wand neben der Tür hängt eine riesige Wolliner Landkarte. Sein Thema sind die Wisente. Polen hat viel getan, um diese größten Säugetiere Europas zu retten.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren sie fast ausgerottet, jetzt leben fast 3000 Tiere in Europa.
"Die Wisente lebten in ganz Europa, vom Ural bis Gibraltar, es war ein Tier, das in Kriegszeiten wichtig war, weil es für die Soldaten viel Fleisch bedeutete. Aus diesem Grund wurde es fast ausgerottet.
Die älteste Nachricht über die Wisente stammt aus Pommern. König Boleslaw hatte gegen die Deutschen gekämpft und brauchte Nahrung für seine Ritter. Er veranstaltete eine Jagd.
Bei dieser Jagd wurde einer der Ritter von einem Wisent so verletzt, dass er starb.
Das wurde beschrieben und gilt als Beweis dafür, dass in dieser Gegend Wisente lebten."
Seit 1976 gibt es auf der Insel Wollin ein Wisentgehege, da ist Platz für sieben bis acht Tiere. Hätten die Polen über die Jahre alle Wisente behalten, wären es jetzt über 60, rechnet mir Jakuzun vor. Sie hätten vier Tiere nach Prätenow auf der Insel Usedom verschenkt. Eine Konkurrenz durch die deutschen Nachbarn sehe er nicht. Vom Laufsteg vor dem Gehege aus machen wir uns kurz bekannt, die majestätischen, dunkelbraunen Wisente und ich.
Nach einer abenteuerlichen Taxifahrt zum Gehege in den Wald hinein und wieder heraus, führt mich Barbara Michalowska auf die Strandpromenade von Misdroy zurück. Dort wird viel gebaut, auch in der Saison:
"Das ist wichtig für die Touristen. Wir hoffen, dass die neuen Häuser das besser machen werden, nicht nur die einfachen Buden, das war so hässlich und wir möchten vernünftig bebaut haben. Die Touristen werden zufrieden sein und das ist das Wichtigste. Na und hier haben wir auch wieder unsere schönen Blumenflächen, und jetzt sind wir gleich beim Hotel 'Aurora'."
Das "Aurora" ist ein Familienunternehmen. Die zwei Etagen wurden kürzlich um weitere zwei aufgestockt. Die denkmalgeschützte Fassade soll erhalten bleiben, innen wurde modernisiert, Wellness und Spabereiche eingerichtet. Das Ziel ist der Aufstieg in der Hotelkategorie, von drei auf vier Sterne. Dafür sei noch einiges geplant, sagt Ewa Tereszczyk-Tyszkiewicz. Zusammen mit der jungen Frau nehmen wir an einem der vorderen Restauranttische Platz.
Das Hotel soll im nächsten Jahr neu verputzt werden. Dann fügt es sich glanzvoll in die erste Häuserreihe ein, hofft die Mitbesitzerin:
"Sie sehen nur diesen Teil der Promenade mit Blumen geschmückt, von der Seebrücke bis zu dem großen Hotel "Amber Baltic". Weiter ist noch nichts gemacht.
Wir hoffen, dass es im nächsten Jahr weiter geht, auch bei der Beleuchtung und mit Blumen. Das macht doch einen guten Eindruck."
Tatsächlich fällt auf, dass in Misdroy viel investiert wurde, von staatlicher wie von privater Hand. Das war lange nicht so. Und Ewa Tereszczyk-Tyszkiewicz legt Wert auf die Unterschiede zur Architektur der Usedomer Kaiserbäder in Deutschland.
"Wir bewirtschaften das hier etwas anders. Ähnlichkeiten mit Heringsdorf oder Ahlbeck werden sie hier nicht finden.
Wir haben vieles ganz neu gemacht und dort ist es so geblieben, wie es früher war.
Bei uns - kann man sagen - entstanden ganz neue Sachen!"
Genau gegenüber ist die Seebrücke. Nicht alle Schiffs-Passagiere, die aus Deutschland herüber kommen, wollen promenieren, manche gehen ins Hotel geradezu. Und fühlen sich dort herzlich willkommen.
Die Geschichte des malerisch im Grünen gelegenen Ostseebades geht bis ins Jahr 1835 zurück. Damals besuchten vor allem gut betuchte Gäste den für sein jodhaltiges heilsames Klima bekannten deutschen Bade- und Kurort. Misdroy, das im 15. Jahrhundert noch ein kleines Fischerdorf war, befindet sich auf der Insel Wollin mitten im polnischen Nationalpark, umgeben von wunderschönen Wäldern und Seen, die zu Wanderungen und Radtouren einladen. Einen Teil konnte ich in der Begleitung von Barbara Michalowska kennenlernen. Wo, frage ich sie nun, wo gefällt ihr Misdroy am besten ?
"Wenn wir am Strand sind, bewundern wir die Ostsee, die ist jeden Tag anders, mal ruhig, mal stürmisch. Wenn wir im Wald wandern, da können wir auch viel von der Natur bewundern und wir besuchen auch unsere Wisente in unserem Reservat. Na, und ich finde einfach keinen schöneren Ort als hier Miedzyzdroje. Ich sage, die Promenade ist interessant, unser Kurpark ist interessant, Kulturhaus."
Ich nehme Abschied von dem Städtchen, das als die "Perle der Ostsee" bezeichnet wird, von Misdroy mit dem langen, feinsandigen Strand, mit Cafés, Restaurants, Pubs und Diskotheken, von der Strandpromenade, vom Anblick alter Villen. Am schönsten, sagt mir Barbara Michalowska zu Abschied, ist es abends auf der Seebrücke. Dort bietet sich nach einem sonnigen Tag ein traumhafter Sonnenuntergang:
"Wenn gute Sicht ist, dann sehen wir den Leuchtturm in Swinoujscie, weiter sehen wir - in erster Linie - die Seebrücke in Heringsdorf. Wir können auch, wenn wir dort sind, mit Handy anrufen über das polnische Netz. So ist das manchmal."