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"Kuhhandel" im Eisschnelllaufen?

Dieser komplexe Fall ist einzigartig: Noch nie wurde eine Athletin nicht aufgrund einer positiven Dopingprobe, sondern allein wegen Indizien gesperrt. Bei der mehrfachen Eisschnellauf-Olympiasiegerin Claudia Pechstein führten auffällige Werte und ungewöhnliche Veränderungen ihres Blutbildes zu einer zweijährigen Sperre. Die 37-jährige Pechstein selbst bestreitet Doping, will vor den Internationalen Gerichtshof CAS ziehen.

Von Jens Weinreich | 05.07.2009
    Die Kernfragen im Fall Pechstein lauten: Warum ist die des Blutdopings verdächtige Olympiasiegerin, die behauptet, absolut sauber zu sein, nicht von Beginn an in die Offensive gegangen? Warum hat Pechstein die Vorwürfe des Eislauf-Weltverbandes ISU, die auf Fakten beruhen, nicht proaktiv entkräftet? Etwa mit der Offenlegung sämtlicher Unterlagen und Kontrollergebnisse - vor allem ihres Blutprofils? Warum ließ sie die von der Internationale Eisschnelllauf Union (ISU) geradezu flehentlich angebotene Chance ungenutzt, eine entlastende Erklärungsmöglichkeit, nämlich eine krankheitsbedingte Anomalie, mit Untersuchungsergebnissen beizubringen? Warum ließen die Anwälte Pechsteins und der Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) im Frühjahr viele Wochen verstreichen? Warum versuchte man, statt Fakten zu präsentieren, die Pechsteins Lauterkeit beweisen, vor allem, angebliche Verfahrensfehler anzugreifen?

    Wer sich ein Bild vom Vorgang machen will, sollte unbedingt den 15 Seiten umfassenden Beschluss der ISU-Disziplinarkommission lesen - Pflichtlektüre. Das Papier klingt schlüssig, greift selbstverständlich die Argumente der Gegenseite auf. Die Kommission hätte Pechstein noch mehr Zeit gegeben und formuliert ausdrücklich ihr Unverständnis und die Verwunderung darüber, dass die des Blutdopings Verdächtige auf den Nachweis einer behaupteten Anomalie verzichtete.

    Dies mag damit zusammen hängen, dass ein genetischer Defekt laut statistischer Erhebungen nur bei acht von 10.000 Menschen mit ähnlichem Blutbild auftritt. Zudem gibt es für dieses Blutbild auch diese Erklärung: Blutdoper können andere Blutwerte relativ leicht beeinflussen - aber nicht den Anteil der Retikulozyten.

    Auf die Kernfragen geben weder die DESG noch die Olympiasiegerin überzeugende Antworten. Stattdessen warten sie mit unbelegten Verschwörungstheorien auf.

    Deshalb ist es wichtig zu konstatieren: Es gibt derzeit nur ein Dokument, das nachprüfbar ist - das Urteil der ISU-Kommission. Pechstein ist schon länger im Fahndungsraster. Der Vorgang entspricht den WADA-Regeln. Pechstein und ihr Verband sind gefordert, Transparenz zu schaffen und die Situation nicht mit unbelegten Behauptungen zu verklären. Es fällt schon deshalb schwer, den Behauptungen von Pechstein und DESG-Präsident Gerd Heinze zu glauben, weil seit Februar gelogen wurde. Heinze sagte im ZDF:

    ""Wir wollen die Wahrheit finden.""

    Noch einmal:

    ""Wir wollen die Wahrheit finden.""

    Dabei hatte er noch kurz vor Veröffentlichung des ISU-Beschlusses gegenüber der Deutschen Presse-Agentur die Wahrheit gebeugt. Seit vier Monaten sagt er nicht die Wahrheit, drohte etwa der Holländerin Ria Visser, die über Dopinggerüchte im deutschen Team berichtet hatte, mit juristischen Maßnahmen - und findet das alles ganz normal. Er habe sich nichts vorzuwerfen, sagte er auf Frage von Michael Steinbrecher im Aktuellen Sportstudio:

    "Nein. Weil der Schutz der Athleten. Und sie wissen ja, der Missbrauch, oder überhaupt. Athleten, gerade solche Persönlichkeiten gerade wie Claudia damit in Verbindung zu bringen, wäre ohnehin ein Brandmal gewesen. Und insofern mache ich mir dort keinen Vorwurf, weil: Das Spießrutenlaufen reicht, wenn es jetzt anfängt."

    Was darf man diesem Funktionär noch glauben?

    Zum Thema des angeblichen, von der ISU angebotenen Kuhhandels, über das Pechstein und Heinze sprachen, nur soviel: Wenn ausgerechnet deutsche Sportvertreter mit diffusen Anschuldigungen aufwarten, um sich selbst ins rechte Licht zu rücken, ist Vorsicht angebracht. Kuhhandel werden im deutschen Sport gern betrieben. Ein durchaus vergleichbares Beispiel ist die gerade zwei Jahre zurückliegende Lösung, die der Deutsche Leichtathletik-Verband mit der Blutdopings verdächtigen ehemaligen Weltmeisterin Grit Breuer getroffen hat. Der DLV stellte das Verfahren ein, ohne zu sanktionieren. Angeblich habe man, weil Breuer ihre Laufbahn beendete und aus dem DLV ausgetreten war, keine Zugriffsmöglichkeit mehr gehabt. Zum Kuhhandel zählt sicher auch, dass der DLV trotz erdrückender Indizien, etwa eines Briefwechsels mit einem spanischen Dopingguru, kein Sportrechtsverfahren einleitete, um beispielsweise Medaillen abzuerkennen.

    Zurück zum Fall Pechstein: Verwundern muss überdies die Haltung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Dessen Generaldirektor Michael Vesper deutete den Umstand, dass keine positive A-Probe vorliegt in eine - Zitat - "Ungereimtheit" um. Dafür gibt es zwei Erklärungsmuster: Erstens, mangelndes Fachverständnis. Zweitens, ein Interesse daran, den so genannten indirekten Nachweis, also die Überführung von Dopern mittels Blut- und/oder Hormonprofilen, zu stoppen.

    Darauf zielt letztlich Pechsteins Verteidigung ab - und auch die PR-Kampagne, die ihr Management und ihr Anwalt entfachen.

    Der DOSB aber müsste - genauso wie die DESG - im Sinne der Transparenz nicht zuvorderst an der juristischen Entscheidung vor dem Welt-Sportgerichtshof CAS interessiert sein. Beide Verbände müssten an der Wahrheit interessiert sein. Der Wahrheit käme man näher, wenn Pechstein, wie erwähnt, sämtliche Unterlagen offenlegt und den Beweis einer Blut-Anomalie präsentiert.

    Ganz am Rande: Präsident der Berufungskommission des CAS ist übrigens: DOSB-Chef Thomas Bach.