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Kult-Gemeinschaften
Von Göttern und Gurus

Esoterische Gruppen und sektenartige Gemeinschaften boomen. Oft werden die rat- und heilsuchenden Mitglieder in solchen Gruppen gezielt manipuliert. Das geschieht unter anderem durch ständige Grenzverletzungen und subtile Zwänge. Wer aussteigen will, wird massiv unter Druck gesetzt.

Von Isa Hoffinger | 09.04.2014
    "Ich bin 34 Jahre alt und bin in diese Gruppe gekommen, als ich 24 war. Eine Gruppenstunde oder Gruppentage sahen so aus, dass man sich getroffen hat bei dem Therapeuten in dem Wohnzimmer, und dann wurde geguckt - wer hat denn da gerade ein Thema, und wenn er nicht an dieses Thema rangegangen ist, dann wurde geschrien, dann wurde getobt, dann wurde diejenige Person rausgeschmissen, die musste dann spazieren gehen - und wenn das dann nicht funktioniert hat, wurde man nach Hause geschickt."
    Jasmina lebt mit ihren beiden Kindern und ihrem Lebensgefährten in einer rund 60 Quadratmeter großen Hinterhofwohnung in München. Als es mit ihrem ersten Partner, dem Vater ihres großen Sohnes, Streitigkeiten gab, wollte sie mit ihm eine Paartherapie beginnen – und geriet an den Leiter einer sogenannten Psycho-Kult-Gruppe.
    Auf seiner Homepage wirbt der Diplom-Psychologe mit Fragen wie "Sehnst Du Dich nach einer besseren Welt?" um eine spirituell interessierte Klientel. Er empfiehlt Bücher mit Titeln wie "Die Tantrische Transformation". Bei Lebenskrisen verspricht er Unterstützung. Bekommen hat Jasmina das Gegenteil. Der Therapeut riet ihr, den Kontakt zu Freunden abzubrechen. Dadurch und durch die langen, teilweise über acht Stunden dauernden Sitzungen, wurde sie krank.
    "Die Methoden von dem Therapeuten waren viel über den meditativen Augenkontakt. In Gruppen vor mir wurde viel in diesen Sexualbereich eingegriffen, das heißt, es wurden die Sexualpartner ausgesucht und miteinander kombiniert wie der Therapeut das ausgesucht hatte - und dann musste man auch den sexuellen Kontakt eingehen, und er ist dann auch in diesen sexuellen Kontakt mit rein gegangen - um noch mehr zu befreien."
    Lebensberater oder Therapeut darf sich jeder nennen
    Subtiler Zwang, gezielte Manipulation und stetige Grenzverletzungen sind typisch für Kult-Gemeinschaften, in denen es darum geht, sich zu "höheren Wesen" zu entwickeln. Was Kulte und Sekten genau sind, ist nur schwer zu definieren. Die Religionsfreiheit ist grundgesetzlich geschützt, und Lebensberater oder Therapeut darf sich jeder nennen. Mit dem Begriff Secta wurden im Mittelalter alle "Irrlehren" bezeichnet.
    Nach Max Weber sind Sekten voluntaristische Gemeinschaften, in die man aufgrund einer persönlichen Entscheidung - nach einer Prüfung durch die Sekte - aufgenommen wird. Kirchen, so Weber, sind Anstalten, in die man hineingeboren werden muss. Doch heute greift diese Einteilung nicht mehr.
    Es gibt unzählige freie Kirchen und Gemeinschaften, die großen Zulauf haben. Zu ihnen gehört etwa das International Christian Fellowship – kurz ICF. Jeder – das betont das ICF – dürfe ein- und austreten, wann er wolle. Das ICF wurde 1996 mit 70 Mitgliedern in Zürich gegründet – heute besuchen 3000 Menschen die Gottesdienste, die "celebrations" heißen. Auch in Stuttgart und in München gibt es ein ICF. 2003 startete die bayerische Gruppe mit Predigten in Wohnzimmern, dann zog sie in einen Kinosaal um, mittlerweile gibt es vier Bühnen-Shows an jedem Sonntag in einer großen Münchner Diskothek. Mit Videos, Livemusik und Tanz. Die ekstatische Stimmung zieht bis zu 1600 vor allem junge Menschen pro Woche an. Bei der Polizei, die Sekten und Kulte überwacht, weil es immer wieder zu Straftaten kommt, sind keine geschädigten Aussteiger des ICF bekannt. Viele Mitglieder gehören zu evangelischen oder katholischen Gemeinden und feiern nur die "celebrations" mit.
    Ein ICF-Mitglied: "Ich bin in der evangelischen Kirche aufgewachsen und bin auch immer noch in der evangelischen Kirche, zumindest auf dem Papier. Hier ist einfach Leben, hier kann ich so sein wie ich bin, hier ist auch der Gottesdienst wie ich bin, hier erlebt man Gott real und es ist halt nicht so steif, und das ist oft eben in der Kirche nicht so, da gibt es oft starre Regeln - und das ist hier eben nicht so."
    Angst vor dem Ausstieg und Alleinsein
    Ganz so freiwillig wie es dieses ICF-Mitglied beschreibt, ist eine Zugehörigkeit zu neuen religiösen Bewegungen und Psycho-Gruppen leider oft nicht. Jasminas erster Partner zum Beispiel war wohlhabend – er spendete 1500 Euro jeden Monat an die Gruppe. Auch wurde er gebeten, die "Schulden" der ärmeren Mitglieder zu tilgen. Als Jasmina aussteigen wollte, versuchte der Therapeut, sie zu halten.
    "Und dann hatte ich mir eine Pause von der Gruppe erbeten, wurde dadurch dann aber wieder so unter Druck gesetzt, jetzt sofort wieder in die Gruppe zu kommen, um an dieser Blockade zu arbeiten, die jetzt da ist, ich bin nicht hingekommen, also ich bin nicht hingegangen und nach einer Woche kompletter Pause bin ich dann auch hingegangen und hatte dann mein Abschlussgespräch."
    Die Angst, jenseits der früheren Gruppe allein dazustehen, hält viele Menschen vom Aussteigen ab. Der Diplom Psychologe Dieter Rohmann hat Jasmina dabei geholfen, sich aus der Gruppe zu lösen. Er hat eine kleine Beratungsstelle in München und arbeitet eng mit der evangelischen Beratungsstelle für neue religiöse Bewegungen zusammen, die Betroffene zu ihm schickt.
    "Es ist schon so, dass in diesen Gemeinschaften, die wir als bedenklich erachten, nichts dem Zufall überlassen bleibt. Wenn Menschen das Gefühl hatten, ihr Leben durch die Hinwendung zu einer spirituell-religiösen Richtung zu entschleunigen, dann werden sie meistens sich wieder sehen in einer spirituell-religiösen Leistungsgesellschaft - nämlich 24 Stunden am Tag seine Gedanken rein halten, seine Handlungen sauber halten. Keine Zweifel hegen und pflegen. Man ist als Kultmitglied 24 Stunden am Tag beschäftigt, das absolut Richtige zu tun. Richtig ist aber nur, was die Gruppe als richtig definiert."
    Jasmina hat auch überlegt, ihren Therapeuten anzuzeigen. Doch justiziabel waren dessen Methoden nicht, weil seine Klienten ihn freiwillig aufsuchten. Harry Bräuer, Kriminalhauptkommissar aus München, berät Polizisten, die mit Anzeigen von Geschädigten zu tun haben. Bundesweit ist diese Beratung der Polizei eine Seltenheit. Viele Menschen nutzen das Angebot, weil sie kirchliche Beratungsstellen für nicht neutral halten, meint Bräuer.
    "Wir haben hier die ganze Palette aller Straftaten, es geht von einem einfachen Nötigungstatbestand, wenn man zu einer Leistung gezwungen wird, meinetwegen einen gewissen Teil des Einkommens zu spenden, und damit gedroht wird, dass man ausgeschlossen wird, bis hin zu Bedrohungssituationen bei Aussteigern, dass man sich vielleicht auch kritisch äußern könnte. Wir haben einen sehr aktiven, bunten Markt und was wir die letzten Jahre beobachtet haben, ist eine Zunahme von den sogenannten Kleingruppen, das heißt, wenn Sie den Esoterik-Markt anschauen, wo sie Mischformen haben, aus hinduistischem Gedankengut, mit vielen anderen Aspekten, wo es um eine starke Persönlichkeit geht, da haben wir wirklich bei über 600 Gruppen Marktführerschaft mit Berlin."
    Doch die wenigsten Aussteiger brächten den Mut auf, zur Polizei zu gehen, meint Psychologe Rohmann.
    "Die meisten dieser Gemeinschaften haben sich auf einen Punkt geeinigt, dass sie keine Gemeinschaft mit der Welt mehr wollen, mit der Exekutive, Judikative usw. Wenn in solchen Gemeinschaften sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung stattfindet, wird keiner aus dieser Gruppe zur Polizei gehen und eine Anzeige schalten. Das heißt die Täter sind eigentlich sicher, dass ihnen gar nichts passieren kann, weil es innerhalb dieser Gemeinschaften absolut verpönt ist, diese Welt um Hilfe zu bitten."
    "Man hat das Gefühl, neu geboren zu sein"
    Dieter Rohmann gehörte kurz selbst zu einer bekannten Gruppierung. 1979 war er für sieben Monate Mitglied der Kinder Gottes, einem sogenannten Weltuntergangskult, den David Berg 1968 in Kalifornien gegründet hatte. Die meisten Mitglieder waren Jugendliche aus der Hippie-Szene. 1999 lösten sich die "Kinder Gottes" offiziell auf, später nannte sich die Gruppe "Familie der Liebe". Dieter Rohmann war bei seinem Eintritt in die Gruppe begeistert:
    "Es ist Wolke Sieben, Schmetterlinge im Bauch, man hat das Gefühl, neu geboren zu sein, endlich für das Wichtige auf dieser Welt zu leben, sich für die richtige Sache zu engagieren, und vor allem auserwählt und Elite zu sein, dieses Gefühl, das man auch mitgeteilt bekommt, du bist auserwählt, du gehörst zu einer kleinen Elite der Welt, die diese Welt aber zu einem besonderen Platz machen wird - dieses Gefühl ist mega-berauschend."
    Heute weiß Rohmann, wie wichtig es für Aussteiger ist, ihre Erfahrungen seelisch zu verarbeiten. Von der Gesellschaft wünscht er sich mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Und mehr Verständnis für Angehörige und Betroffene.
    "Niemand tritt einer Sekte bei. Alle Menschen treten Gemeinschaften bei, die versprechen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Wenn man so eine Gemeinschaft verlassen möchte, ist das immer mit sehr viel Leid, Trauer und Einsamkeit verbunden, weil die vermeintlichen Brüder und Schwestern, die man in der Gemeinschaft kennengelernt hat, lassen einen, wenn man zu zweifeln beginnt, fallen wie eine heiße Kartoffel. Also nur so lange ich die Spielregeln exakt einhalte, werde ich auch akzeptiert und gemocht. Alle diese Gemeinschaften leben von schlechten Nachrichten, um deutlich zu machen: Bei uns ist alles anders und wenn du dich bei uns engagierst, wirst du auch dazu beitragen, diese Welt zu einem besseren Platz zu machen."