Kultur 2000

* MUSIK Lourival Araújo: "Maria Fumaça" Ausf.: Lourival Araújo, Percussion Pata Music/Pata Bahia(LC 5107)

Von Norbert Ely |
    Ende 1990 weinte die Madonna von Fortaleza im brasilianischen Nordestino. Die Tränen, die die Statue der Muttergottes vergoß, versetzten die Menschen in Aufruhr. Die Literatura de Cordel, die Heftchen-Literatur von der Wäscheleine, nahm sich des Vorfalls an. Einer der Titel lautete: "Die Tränen der Santa Mistica prophezeien das Ende der Welt". Im gleichen Jahr 1990 erschien beim Berliner Merve Verlag ein Essay von Jean Baudrillard: "Das Jahr 2000 findet nicht statt". Baudrillard ging von einer Überlegung Elias Canettis aus, derzufolge von einem bestimmten Zeitpunkt an Geschichte vielleicht nicht mehr wirklich sein werde, und er sah den Grund dafür in der Beschleunigung der Moderne bis hin zu jener zentrifugal wirkenden Fluchtgeschwindigkeit des Denkens, wo alle Schwerkraft und damit jede Fixierung auf einen festen Punkt aufgehoben sei. Daß die Madonna von Fortaleza dieses Baudrillard'schen Essays wegen weinte, ist unwahrschein-lich. Soweit war das Internet 1990 noch nicht. Vielmehr dürfen die Prophezeiung der Madonna wie die des Jean Baudrillard als typisch regionale Kulturphänomene gelten; von der ersteren nahmen nur die Menschen des brasilianischen Nordestino Kenntnis, von Baudrillard vorwiegend jene Leser in Frankreich und Deutschland, die dem vergleichsweise kleinen Stamm der Stadtindianer zugerechnet werden. Nur das Format, in dem die bösen Ahnungen publiziert wurden, war in der Tat global; sowohl die Literatura de Cordel im Nordestino als auch der Berliner Merve Verlag bevorzugen jene 12 x 16 Zentimeter, die noch bequem in die hintere Tasche des Weltkulturerbes Nr. 1 passen, in die Jeans. Und damit wären wir bei zwei wichtigen Tendenzen der Kultur im nächsten Jahrhundert: Regionalisierung und Globalisierung.

    Der Kulturtheoretiker Professor Max Fuchs:

    "Viel wichtiger auch aus kultureller Hinsicht ist, was einem einsuggeriert wird, wenn man das Wort Globalisierung verwendet. Es soll einem nämlich - glaube ich - eingetrichtert werden, daß etwas quasi naturgesetzlich geschieht, was man nicht mehr beeinflussen kann. Insofern ist an den Globalisierungsprozessen einerseits natürlich wichtig, die Tatsache was geschieht, wo geschieht - auch im kulturellen. So etwas wie eine Angleichung von Standards und Werten aber die politische Dimension - mit Beaudieu zu sprechen: Der Aspekt der symbolischen Gewalt, der in diesem Begriff drinsteht; nämlich einem einzureden, man könne nichts mehr tun weil man einfach nicht möchte, dass man etwas tut; den sehe ich gerade aus kultureller Sicht auch im Hinblick auf diese Spiegelmetapher als sehr viel wichtiger an."

    Max Fuchs ist Autor mehrerer Bücher und Schriften zu Grundsatzfragen der Kultur und Kulturpädagogik, ferner Vorsitzender der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung und Direktor der Akademie Remscheid für musische Bildung und Medienerziehung, einer Einrichtung des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen mit zugleich starker regionaler Bindung an das Bergische Land.


    "Kultur ist ein Pluralitätsbegriff; also "die Kultur" gibt es gar nicht, es gibt einfach viele, viele Kulturen. Und eine ganz wichtige Kompetenz ist die Kompetenz, nämlich umgehen zu können mit unterschiedlichen Kulturen, auch solchen Kulturen, die mir völlig fremd sind - die nämlich zum Beispiel in Anführungszeichen nicht abendländisch sind. Wobei es hierfür sicherlich notwendig ist, eine gewisse Stabilität in dem zu bringen, was man so als seine eigene Heimatkultur definiert."

    Untersucht man die Diskussion über die gegenwärtige Entwicklung der Kultur, so fällt auf, wie häufig einem wissenschaftlich eher unscharfe, dafür emotional besetzte Begriffe begegnen anstelle der früher gebräuchlichen streng-wissenschaftlich distanzierten Sprache. Alle reden im Ungefähr. Tatsächlich scheint ein Kennzeichen sowohl der Kulturdiskussion als auch des kulturellen Prozesses zu sein, daß es keine genau abgrenzenden, quasi systematisierenden Begriffe mehr gibt. Von Tendenzen läßt sich gleichwohl sprechen, und da auf durchaus breiter Basis. Selbst so gegensätzliche Denker wie Niklas Luhmann und Peter Sloterdijk scheinen sich einig in der Beobachtung, daß der künftigen Kultur zwei Ingredienzien eigen sind: die Poiesis, wie Sloterdijk sie nennt, also das schlichte Machen, und das Moment von Kommunikation.

    Da sind wir zugleich auch schon beim Machen und bei den Machern. Denn die Kultur der Zukunft scheint denn doch im jeweils konkreten Ereignis, im einzelnen und je vereinzelten Geschehen zu bestehen, und nicht mehr in einer über verbindliche Regeln bestimmbaren kulturellen Sphäre. Reden wir also mit einem Macher, einem Poeten, dem Komponisten und Saxophonisten Norbert Stein, der mit seinem Projekt "Pata Musik" an befremdlichen Orten wie Salvador de Bahia oder dem marokkanischen Rabat Begegnungen sucht.

    * MUSIK Norbert Stein: "Parliament of music" Ausf.: Norbert Stein(Altsaxophon) Ensemble LTG:Norbert Stein Pata Music/Pata Maroc(LC 05107)


    Norbert Stein gehört in jenen kulturellen Bereich, der gemeinhin mit dem Wort "Weltmusik" umrissen wird, der aber ebenso unscharf ist wie alle anderen Bestimmungsversuche in dieser sich immer wieder dem Zugriff entziehenden Landschaft der Kulturen. Zu seiner Musik gehört auch die Arbeit mit dem Computer, und der wird in der Tat ein wesentliches Instrument aller künftigen Kultur sein. Das freilich wirft die Frage nach den virtuellen Welten auf und nach dem neuen Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Virtualität. Noch einmal Max Fuchs:

    "Mit dem Problem der Virtualität geht das der Geschwindigkeit einher, und zwar möglicherweise einer Geschwindigkeit bis hin zum Verschwinden von Identität und Individualität?"


    Kultur im 21.Jahrhundert wird, so scheint es, vor allem dem Verschwinden des Menschen entgegenwirken, und dies in einem offenen Zusammenhang statt in geschlossenen Systemen oder gar definierten Stilen. Es wird keine Orientierung und keine Wegemarkierungen geben außer denen, die jeder für sich selbst im Kontext der Begegnungen findet. Das heißt: Es wird auch keine verbindlichen Stile mehr geben und keinen Fortschritt, und dies, weil auch die Zeitachse keine zuverlässige Straße mehr darstellt. Wo in der virtuellen Welt Geschichte aufgehoben ist, gibt es weder Moderne noch Postmoderne und auch keine historische Aufführungspraxis Alter Musik, sondern nur Aktualität.

    Gerade dies aber wird weite Bereiche des traditionellen institutionalisierten Kulturbetriebs zum Verschwinden bringen: Theater, Orchester, Verlage, Festivals - kurz: alle jene Einrichtungen, die sich stärker auf Geschichte berufen als auf ihre Fähigkeit zur Kommunikation und denen die alles dominierende Verstrickung in den Geldkreislauf schneller den Garaus machen wird als zur kommenden Jahrhundertwende abzusehen ist. Wer weiß überhaupt, ob dann das Jahr 2.100 noch stattfindet und ob die Tränen der Madonna von Fortaleza übermorgen nicht schon seit Jahrhunderten fließen werden, weil sie zwar nicht das Ende der Welt prophezeien, aber vom Ende der Zeit künden?


    * MUSIK trad.(bearb.: Vladimir Ivanoff): "Innâ-l-bârâyâ"(altsyrisch/aramäisch) (Melchitischer Gesang/Hymne an die Jungfrau Maria zum Fest der Beschneidung des Herrn aus der maronitischen Liturgie des Hl.Basilius) Ausf.: Fadia El-Hage, Gesang Vladimir Ivanoff, Sampler und Synthesizer Wolfram Nestroy, E-Gitarre ERDENKLANG 71002(LC 8155)