Donnerstag, 18. April 2024

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Kultur als Energielieferant
"Leidenschaft und Sehnsucht nach Dingen muss kulturell erzeugt werden"

Unsere Gesellschaft sei auf Steigerungsleistungen, Beschleunigung und Innovation angelegt, sagte der Soziologe Hartmut Rosa im Dlf. Dazu sei auch so etwas Begehrensenergie notwendig. Und das sei etwas, "was kulturell erzeugt werden muss und zum Teil natürlich auch kulturell erzeugt wird".

Hartmut Rosa im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 02.08.2017
    Der Soziologe Prof. Dr. Hartmut Rosa beim Vortrag Gutes Leben. Kluges Leben. Was kann die Politik fuer unser Zusammenleben tun? auf dem Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart.
    Der Soziologe Prof. Dr. Hartmut Rosa bei einem Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart. (imago / Wuechner/Eibner-Pressefoto)
    Maja Ellmenreich: Und jetzt wollen wir hier in "Kultur heute" unsere Sommerreihe fortsetzen: um Energie, im weitesten Sinne, geht es in diesen Wochen ja bei uns in der Sendung. Und dazu möchte ich Ihnen heute Gustav und Vincent vorstellen, zwei begabte Nachwuchskünstler, die ihre kreative Energie ganz unterschiedlich einsetzen. Die beiden nehmen an einem Mal-Wettbewerb teil: Gustav verwendet seine Energie auf eine generalstabsmäßige Vorbereitung: auf die Auswahl der richtigen Arbeitsmaterialien und auf die inhaltliche Vorbereitung etwa. Sein Konkurrent Vincent dagegen macht sich keinen allzu großen Kopf, sondern legt gleich los, ohne klaren Plan, wohin die Reise gehen mag. Er greift zu Papier und Farbe und macht sich an die Arbeit.
    Gustav und Vincent – zwei ganz unterschiedliche Künstlertypen. Hartmut Rosa stellt diese beiden Maler den Lesern seines Buches "Resonanz" vor. "Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung" heißt es. Und Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Universität in Jena ist er, er ist heute unser "Energie"-Gesprächspartner.
    Wenn wir uns diese beiden Jungkünstler näher anschauen: diesen planungsfixierten Gustav und den deutlich spontaneren Vincent. Wer geht da sinnvoller mit seiner künstlerischen, mit seiner kreativen Energie um, Herr Rosa?
    "Wir leben in einer Gesellschaft, in der reine Spontaneität auch nicht weit führt"
    Hartmut Rosa: Ich denke, am Ende wird es wahrscheinlich auf eine Form von Balance hinauslaufen. Beide Strategien sind per se sinnvoll, aber definitiv eine Verschwendung von Energien, die vermutlich dazu führt, dass die Energie auch verschwindet. Er liegt darin, wenn man die gesamte Energie auf die Planung oder Vorbereitung oder, wie ich das nenne, auf die Akkumulation von Ressourcen legt, also wenn wir in unserem Leben oder in unserer Kunst alles daran setzen, möglichst gute Ausstattung zu haben, dann geht uns, glaube ich, tatsächlich kreative Energie, Lebensenergie geradezu verloren, sodass ich mich im Zweifelsfall für Vincent eher entscheiden würde, wenngleich wir natürlich mindestens in gesellschaftlichen Verhältnissen leben, in denen eine reine Spontaneität auch nicht sehr weit führt.
    Ellmenreich: Also Vincent ist Ihrer Meinung nach vielleicht doch der bessere, der eigentlichere Künstler?
    Rosa: Ja, das glaube ich. Ich glaube, dass Kunst immer mit einem Moment – übrigens Kunst wie Leben – mit einem Moment des Unverfügbaren einhergeht, das Energie aus der Interaktion gewinnt, aus dem In-lebendige-Verbindung-treten mit etwas. Und dabei kann man nicht alles unter Kontrolle kriegen. Ich glaube, der Versuch, alles verfügbar zu machen, kontrolliert und steuerbar zu machen, der ist etwas, was tendenziell die Entfaltung von Energien verhindert. Energie ist nicht etwas, was nur ich habe oder was wir haben, sondern es ist etwas, was auch entsteht in der Interaktion mit anderen oder anderem. Und das bedeutet aber auch, darauf zu verzichten, alles verfügbar, kontrollierbar, beherrschbar machen zu wollen.
    Ellmenreich: Sie haben gerade unterschieden zwischen anderen, also Menschen, und anderem, also Sachlichem. Dieser Vincent, dieser vielleicht bessere Künstler, der agiert ja mit Pinsel, mit Farbe, mit Leinwand. Wo kann da wirklich Schwingung entstehen, wenn ich das Wort Resonanz, das Sie ja häufig benutzen, jetzt mal wörtlich nehmen kann. Also der Mensch auf der einen Seite, und das Ding, die Sache an sich, wie kann da überhaupt eine Schwingung entstehen?
    "Die Komposition scheint sowas wie ein eigenes Leben zu gewinnen"
    Rosa: Ich glaube, diese Schwingungen oder Resonanzen entstehen da, wo wir plötzlich einem anderen begegnen, das zu uns spricht, das uns vielleicht sogar anruft geradezu. Und diesen Anruf von einer Sache zu erfahren, das kann auf verschiedenen Ebenen passieren. Also bei einem Künstler wird es natürlich dann häufig die Gestalt sein, die sich da irgendwie Bahn zu brechen scheint durch die Leinwand hindurch und über die Farben hinweg, wo der kreativ Tätige vielleicht noch gar nicht genau weiß, was da zur Sprache kommt, aber sich irgendwie auch gezogen fühlt von einer Sache, oder angerufen fühlt von einer Sache. Und das geht immer mit einer bestimmten, eigentlich mit einer energetischen Aufladung einher. Also, was da spricht, das sind nicht die Einzeldinge, also dass man sagt, dieser Pinsel spricht mich an, das halte ich für sehr unwahrscheinlich, oder diese Farbe. Aber trotzdem haben Künstler, egal, ob das jetzt bildende oder musische oder schreibende sind, die machen ganz häufig die Erfahrung, dass da das, was da auf der anderen Seite steht, der Text, das Bild, die Komposition vielleicht in der Musik, sowas wie ein eigenes Leben zu gewinnen scheint, eine eigene Stimme entwickelt. Und dabei entsteht etwas, was ich vorher eben nicht genau festlegen kann.
    Ellmenreich: Vielleicht hätte man früher gesagt, die generalstabsmäßige Vorbereitung bringt diesem Gustav, diesem Maler, gar nichts, wenn ihn nicht die Muse küsst. So hätte man vielleicht früher diesen Moment der Resonanzentstehung genannt?
    "Kompetenzen brauche ich um der Resonanz willen"
    Rosa: Das würde ich genauso auch sagen. Das habe ich auch diskutiert in dem Buch, weil diese Muße war genau die Idee einer Anrufung von einer Macht, über die ich nicht vollständig verfügen kann. Ganz viele Ideen des künstlerischen Geschehens laufen darauf hinaus, dass dieser Moment des Kusses oder des Anhauchs oder der Inspiration ein Moment der Unverfügbarkeit ist. Und ich glaube, man kommt da weiter, wenn man über das Verhältnis von Kompetenz und Resonanz nachdenkt. Ich glaube, ein Problem in unserem Kulturverständnis, besonders auch im Bildungsverständnis ist, dass wir alles auf die Kompetenzseite setzen. Und Kompetenzen sind aus meiner Sicht das, über was wir verfügen, was wir beherrschen, kontrollieren, was ausschließlich auf unserer Seite ist. Resonanz hingegen ist das, was sozusagen die andere Seite, das, was mich irgendwie anruft oder berührt, mitbedenkt und voraussetzt. Und ich glaube, wenn wir Kunst und übrigens auch Bildung als Resonanzgeschehen verstehen, dann ist es klar, dass wir Kompetenzen brauchen, um selbst wirksam zu werden. Aber die Kompetenzen sind dann das, was ich um der Resonanz willen brauche, und nicht umgekehrt der Endzweck entweder des künstlerischen Tätigseins oder der Bildung.
    Ellmenreich: Ja, und dieser Anruf, der kommt ja wahrscheinlich auch aus der Umgebung, aus der Umwelt.
    Rosa: Genau.
    Ellmenreich: Also die Gemeinschaft drumherum beziehungsweise die Welt, wie sie sich vielleicht jetzt gerade im Jahr 2017 darstellt. Ist das jetzt eine Welt, wenn wir mal rausschauen aus dem Fenster, die viel Anrufung hervorbringt? Ist das eine Welt, die gerade Künstler sehr zum Vibrieren bringt und zu Resonanzbeziehungen geradezu auffordert? Was meinen Sie?
    "Wir wollen berührt oder bewegt werden"
    Rosa: Da muss ich sagen, was Soziologen meistens sagen, die Dinge sind ambivalent. Weil auf der einen Seite ist es, glaube ich, schon so, dass wir, nicht nur die Künstler und Künstlerinnen, sondern eigentlich alle Menschen, ganz resonanzsensibel geworden sind. Wir suchen überall nach dieser Anrufung. Wir wollen berührt oder bewegt werden durch die Geschichten, die wir lesen, gerade durch die kulturellen Erfahrungen, die wir suchen, sei es Musik oder Museum oder sonst etwas, sodass ich glaube, wir sind schon auf der Suche nach diesem Anruf, aber es gibt diese Gegenseite, dass wir nämlich in einer Welt leben, die institutionell und systematisch versucht, Dinge verfügbar zu machen und beherrschbar und kontrollierbar zu machen und vor allen Dingen, die unter Steigerungszwängen steht. Wir müssen aus strukturellen Gründen, weil eine modernen Gesellschaft sich nur so stabil erhalten kann, uns jedes Jahr steigern im Sinne von Beschleunigen, Wachsen, Innovieren und Optimieren. Und das führt uns in eine verdinglichende Haltung gegenüber der Welt, die mit Unverfügbarkeit gar nicht mehr rechnet und die uns im Prinzip resonanztaub werden lässt, weil wir unsere Energien auf Ressourcenanhäufung im Sinne Gustavs konzentrieren, und weil wir auf Steigerung fixiert sind.
    Ellmenreich: Also Gustav ist jemand, der vielleicht viel besser ins Jahr 2017 passt als ein Vincent, der vielleicht eher ins 19. Jahrhundert gepasst hätte?
    Rosa: Ja, ich glaube, das kann man so sagen, vor allen Dingen deshalb, weil wir als reine Vincents in dieser Gesellschaft auch nicht erfolgreich sein werden. Wer nicht systematisch versucht, sein kulturelles, sein ökonomisches, sein soziales Kapital und übrigens sein Körperkapital zu hegen, zu pflegen und zu steigern, der riskiert eben, dass er in naher Zukunft überhaupt keine Ressourcen mehr hat, die es ihm auch erlauben, eine Vincent-förmige Spontaneität zu entfalten. Deshalb glaube ich eigentlich, wir sind tatsächlich institutionell eher in eine Gustav-Haltung gezwungen, die uns zu Ressourcensammlern werden lässt, denen es eben schwerfällt, sich überhaupt noch berühren und bewegen zu lassen und sich auch als wirksam zu erfahren in dieser transformativen, lebendigen, kreativen Weise.
    Ellmenreich: Dabei würde uns, wenn ich Sie richtig verstehe, Hartmut Rosa, eigentlich eine größere Auseinandersetzung mit der Kultur, mit der Kunst gut tun. Deute ich Ihre Worte richtig, dass Kultur, Kunst ein großartiger Energielieferant ist?
    "Leidenschaft und Sehnsucht nach Dingen muss kulturell erzeugt werden"
    Rosa: Ich glaube, dass das absolut so ist. Blumenberg hat mal gesagt, Kultur entsteht durch das Gehen von Umwegen, was eben bedeutet, gerade nicht durch das zielstrebige Verwirklichen von vorgefassten Plänen. Und de facto ist es, glaube ich, so, dass diese strukturell nötigen Steigerungsleistungen - also wir müssen ökonomisch wachsen, wir müssen beschleunigen, wir müssen innovativ sein -, diese Steigerung, die fällt nicht vom Himmel, die können die Institutionen nicht selbst erbringen. Die benötigen auch so was wie Begehrensenergie, Leidenschaft und Sehnsucht nach Dingen. Und das wiederum ist etwas, was kulturell erzeugt werden muss und zum Teil natürlich auch kulturell erzeugt wird.
    Aber es gibt eben auch in der Wahrnehmung eine Art von Grauschleier, der sich über die Welt legt – dass Menschen irgendwie das Gefühl haben, es gibt immer weniger, was sie berührt, und dann brauchen sie vielleicht auch immer extremere Kicks, extremere Filme, extremere Lautstärken oder ich weiß nicht, was man da machen kann, auf wie viele Weisen Stimulation gesucht wird. Und im Radikalfall dann so was wie der Burnout droht, was nämlich ein Weltzustand ist, bei dem wir vielleicht viele Ressourcen haben – viele Freunde, viel Geld, einen tollen Job –, aber von nichts mehr berührt oder bewegt werden und auch nicht mehr das Gefühl oder die Überzeugung haben, dass wir wirksam sind im Sinne von fähig, Welt zu erreichen, andere Menschen zu erreichen, Dinge zu bewegen. Und da liegt eine große Gefahr, dass wir unsere kulturellen Energien einbüßen und dann auch die Lebensenergien verlieren.
    Ellmenreich: Und wie kann man dem entgegenwirken? Selbst singen, selbst malen, selbst tanzen?
    "Singen ist eine Tätigkeit, die Resonanzprozesse in Gang bringen kann"
    Rosa: De facto ist es, glaube ich, so, das haben ja auch viele entdeckt. Singen ist in der Tat eine leibliche Tätigkeit, die Resonanzprozesse ganz stark in Gang bringen kann, wenn Menschen zum Beispiel in einem Chor singen, dann werden sie in der Regel sogar leiblich berührt durch das, was sie da hören. Und sie antworten darauf auch leiblich. Die eigene Stimme sozusagen wird wirksam in einem Ganzen, das sich dann dadurch transformiert, also verändert. Und wie das klingt, enthält immer einen Moment der Unverfügbarkeit. Singen und Tanzen sind tatsächlich Resonanzpraktiken, die kulturell durchaus wirksam sind. Aber sie wirken nicht unter allen Umständen. Wenn ich gestresst und in Zeitnot bin oder aus anderen Gründen, vielleicht aus Angst oder aus der Erfahrung, dass Berührtwerden Verwundetwerden bedeutet, wenn ich aus solchen Gründen schon resonanztaub geworden bin oder in einem Zustand der Entfremdung mich befinde, dann kann Singen und Tanzen sogar das Gegenteil bewirken. Und ich glaube, wenn ich all diese Dinge nur instrumentell tue, weil ich sage, damit ich noch erfolgreicher bin, sollte ich mehr singen oder tanzen, dann gelingt es mir nicht, in Resonanzbeziehung zur Welt zu treten, weil ich dann ausschließlich subjektfixiert bin und eben gerade nicht eine Anrufung im Sinne eines sprechenden Anderen erfahre.
    Ellmenreich Der Soziologe Hartmut Rosa. Danke für dieses Energie- und Resonanzgespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.