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Kultur als Friedensstifter

Bereits zum sechsten Mal ist Jean-Marie Gustave Le Clézio nach Mauritius gereist, um den Gewinner des Jean-Fanchette-Preises bekannt zu geben - die populärste Literaturauszeichnung des Gebiets. Mit einem eigens gegründeten Verein will der Autor aber auch die soziale Unzufriedenheit der Bevölkerung lindern.

Von Antje Allroggen | 28.07.2013
    Ein früher tropischer Winterabend auf Mauritius. Etwa 50 geladene Gäste haben sich im Rathaus von Rose Hill, einer Ortschaft im Landesinneren der Insel, versammelt. An den holzverkleideten Wänden hängt ein Bild des Premierministers, der an diesem Abend sogar physisch anwesend ist, daneben steht die mauritische Flagge. Etwas verspätet betritt Jean Marie Gustave Le Clézio den Saal. Sein schwarzes Hemd hängt locker über der grauen Hose. Ohne Applaus wird er vom Bürgermeister der Stadt per Handschlag begrüßt. Der Literaturnobelpreisträger blickt scheu ins Publikum, dann überlässt er zunächst anderen das Wort. Bereits zum sechsten Mal ist der Schriftsteller nach Mauritius gereist, um den Gewinner des Jean-Fanchette-Preises bekannt zu geben.

    20 Jahre nach dem Tod von Jean Fanchette wirkt seine Literatur immer noch nach, sagt Issa Asgarally - Linguist, Schriftsteller und enger Freund Le Clézios und Jean Fanchettes. 1932 auf Mauritius geboren, hatte Fanchette seine Heimat früh aufgegeben, um sich im Alter von 18 Jahren im Exil niederzulassen. In Paris studierte er Medizin, dort schrieb und veröffentlichte er seine preisgekrönten Gedichte.
    Mit Mauritius verband ihn bis zu seinem Tod im Jahr 1992 eine Sehnsucht nach verlorener Heimat.

    Jean Marie Gustave Le Clézio ist seinem Schriftstellerkollegen Fanchette nie begegnet. Erst Asgarally brachte beide Männer zusammen, indem er Le Clézio die Präsidentschaft des Preises übertrug. Der Jean-Fanchette-Preis ist die bekannteste Literaturauszeichnung, die im Raum Indischer Ozean alle zwei Jahre vergeben wird. Sie will zum einen noch unbekannte Autoren dazu ermutigen, sich intensiver als bisher der Literatur zu widmen. Doch nicht immer kann die Qualität der eingereichten Texte die international zusammen gesetzte Jury überzeugen: Im vergangenen Jahr wurde deshalb auf die Preisvergabe komplett verzichtet. Zum anderen hat der Preis zum Ziel, Jean Fanchette in Erinnerung zu behalten und sich um Neu-Editionen seiner Texte zu bemühen.

    Vor kurzem wurde seine Gedicht-Anthologie Ĵle Equinoxe – Insel der Tagundnachtgleiche – neu aufgelegt. Jean Marie Gustave Le Clézio schrieb das Vorwort dazu. An diesem Abend las er daraus vor:

    "Ich bin nicht von hier. Ich bin aber auch nicht mehr woanders zu Hause",

    beginnt Le Clézio die Wiedergabe seines Textes mit einem Wort von Jean Fanchette. An diesem Abend erhält ein junger Mann für seinen unveröffentlichten Science-Fiction-Roman den ersten Preis. Danach gibt es einen kleinen Empfang mit Weißwein und Häppchen. Der Nobelpreisträger, übermüdet vom langen Überseeflug, stellt sich geduldig den unterschiedlichen Anliegen und Fragen der Gäste.

    Dass die Vergabe dieser Auszeichnung nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, weiß Le Clézio. 70 Prozent der mauritischen Bevölkerung liest nicht mehr als ein Buch im Jahr. Etwa 13 Prozent der Inselbewohner sind Analphabeten. Offiziell besucht auf Mauritius zwar jedes schulpflichtige Kind eine Schule. Fast die Hälfte aller Zwölfjährigen wird jedoch aus dem Schulsystem jedes Jahr entlassen, ohne einen Abschluss erworben zu haben.

    Die Folgen für das soziale Gefüge der Insel sind fatal. Schon einmal, im Frühling 1999, hat es auf Mauritius bürgerkriegsähnliche Unruhen gegeben. Damit sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung nicht noch einmal auf ähnliche Weise entlädt, haben Asgarally und Le Clézio den Verein für Interkulturalität und Frieden gegründet.

    "Damit der Gedanke der Interkulturalität wirklich greift, ist es meiner Meinung nach wichtig, sich zuallererst um die Kinder und deren Ausbildung zu kümmern",

    meint Le Clézio. Deshalb unterstützt er gemeinsam mit seinem Freund Asgarally Schulen, die von Kindern besucht werden, die in den staatlichen Einrichtungen versagt haben. Dabei ist es Le Clézio ein besonderes Anliegen, die Schüler mit kulturellen Angeboten zu versorgen: Sie lesen viele Bücher, spielen Theater, schreiben selber Texte.

    "Die Literatur ist nicht unbedingt eine Vision der Zukunft, aber sie gibt einen offenen Blick in eine offene Welt frei. In dieser Welt der Literatur gibt es keine kulturellen, sozialen oder ethnischen Barrieren. Dort begegnet man sich. Sie ist auch ein Mittel, um Bekanntschaft mit dem Fremden, dem anderen zu machen. Ich glaube, dass wir auf Mauritius mit dem Fanchette-Preis und ähnlichen Initiativen auf einem guten Weg sind."

    An diesem Tag besucht Le Clézio einen Kindergarten im Süden der Insel. Ein kleines Mädchen will vom Nobelpreisträger Huckepack genommen werden, ein anderes setzt sich für ein Gruppenfoto auf seinen Schoß.

    Die Einrichtung befindet sich mitten in einer exklusiven Villenanlage. Die Häuser wurden später als der Kindergarten gebaut. Beide Welten begegnen sich nicht – noch nicht einmal hier, wo Reichtum und Armut nur wenige Meter voneinander entfernt sind.

    "Diesem Phänomen begegnet man nicht nur auf Mauritius, sondern überall auf der Welt. Ich bin oft in Frankreich, in den USA, dort beobachte ich genau das gleiche. Aber irgendwann fordern die Menschen, die in den Ghettos leben, ihren Tribut. Deshalb muss man hier verallgemeinern."

    Um eine weitere Ausfransung an den Rändern der Gesellschaft zu verhindern, planen Asgarally und Le Clézio den Schulterschluss mit anderen Inseln im Indischen Ozean. Von der Weltöffentlichkeit sind diese Inseln längst vergessen worden.

    Am nächsten Tag steht die Einladung des französischen Botschafters auf dem Programm. Le Clézio meldet sich krank. Stattdessen fährt er mit seinem dunkelgrünen Land-Rover in ein Gefängnis. Die Insassen warten auf neuen Lesestoff.