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Kultur als Staatsziel?

Immer wieder ist es Streitfall von Bundes- und Landespolitikern, von Kulturleuten und Haushaltspolitikern: ein Staatsziel Kultur. Was auf den ersten Blick sinnvoll und zweckmäßig erscheint, könnte Fallstricke haben. Eine öffentliche Konferenz auf Schloss Neuhardenberg hat es ausgelotet: Was fällt unter den Begriff der Kultur als Staatsziel? Ist Kultur als Recht einklagbar? Und inwieweit sind Länderrechte betroffen?

Von Jochen Stöckmann | 08.06.2008
    Auf den 512 Seiten des jüngsten Berichts der Kulturenquetekommission kommt der sperrige Begriff immerhin 173-mal vor: Das "Staatsziel" liegt Experten und Kulturpolitikern sehr am Herzen, ihr größter Wunsch: ein extra Grundgesetzartikel, nur für die Kultur. Aber ist Kultur etwas Bedrohtes und Wehrloses, das der Hilfe des Staates zu seiner Selbsterhaltung bedarf?

    Braucht Kultur staatlichen Schutz vor dem Diktat des Marktes, vor der um sich greifenden Ökonomisierung und dem Quotendenken? Oder ist hier der staatliche Schutz einer "Leitkultur" gemeint, der Schutz also vor dem Einfluß zu- und einwandernder Kulturen? Kann und soll schließlich Kultur Schutz durch einen Staat erfahren, dessen Eingriffe zum Beispiel bei der Kunst durch Artikel 5 GG ausdrücklich abgewehrt werden sollen? Diesen Fragen widmete sich eine Tagung der Stiftung Schloss Neuhardenberg, bei der Experten in Vorträgen, Podiumsgesprächen und offenen Diskussionen um die Klärung eines neudeutschen Begriffs bemüht waren: "Kulturstaatszielbestimmung".

    Kulturkampf allerorten: Warum werden wertvolle Handschriften ins Ausland verkauft? Darf das UNESCO-Weltkulturerbe in Dresden verkehrspolitischen Erwägungen zum Opfer fallen? Können Sparkommissare in den Kommunen Etats von Museen und Theatern beschneiden? Diese Debatten sollen - geht es nach dem Willen der Enquetekommission des Bundestages - auf einen Schlag beendet werden: Experten und Kulturpolitiker empfehlen, mit dem Satz "die Bundesrepublik schützt und fördert die Kultur" ein weiteres "Staatsziel" ins Grundgesetz einzufügen. Denn:

    "Es ist verhängnisvoll, dass der Bund nicht mit abgesicherten Kompetenzen in kulturellen Angelegenheiten ausgestattet ist. Nur nach Einlösung dieser Forderungen kann unser Land seinen Beitrag zur europäischen Kultur erfüllen."

    Paul Raabe, ehemaliger Bibliotheksdirektor in Wolfenbüttel und Halle, weiß sich einig mit kulturpolitischen Funktionären wie etwa Olaf Zimmermann, dem Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats:

    "Der Bundesrechnungshof hat eindeutig erklärt, dass alles, was an Bundesförderung im Kulturbereich stattfindet - mit Ausnahme von dem, was in der Hauptstadt stattfindet - nicht verfassungsgemäß ist."

    Aber deshalb gleich eine Grundgesetzänderung? Damit wäre allenfalls pro forma die längst eingespielte Praxis abgesegnet: dass etwa Theatermacher wie Matthias Lilienthal beim Kulturstaatsminister, der Bundeskulturstiftung oder anderen Fördereinrichtungen Gelder für jedes Einzelprojekt mühsam erstreiten:

    "Wir müssen diese Sachen rasant ausbauen - wo unser Kleingärtner- und Gartenzwergblick auf Schutzräume überhaupt nichts hilft - und uns da nicht in Verfassungsdebatten verkitschen, die nur ein Alibi sind, um danach streichen zu können."

    Auch Klaus-Dieter Lehmann, ehemaliger Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, sieht für seine Kollegen keinen praktischen Nutzen in der so häufig beschworenen "Kulturstaatszielbestimmung", wenn es in den Stadträten heißt:

    "Wenn Ihr das Museum nicht mehr bezahlen könnt, dann verkauft ein Bild. Kunst mit ihrer Aura wird als Lifestyle-Produkt erkannt und vermarktet. Hier ist ein politischer Wille gefragt – und nicht ein Kulturstaatsziel!"

    Mit dem neuen Grundgesetzartikel unterm Arm könnte zwar jedermann seine ganz spezielle Kultur einklagen – aber was hilft der Gang nach Karlsruhe, wenn vor Ort, in Ländern und Gemeinden, das Geld fehlt? Politik und Bürgern, so der ehemalige Verfassungsrichter Udo Steiner, stünde es gut an, auf dem Felde der Kultur einmal nicht in den alten Trott zu verfallen:

    "Der Staat schützt, das ist die Grundmelodie der neueren deutschen Rechtsgeschichte: Anlegerschutz, Gesundheitsschutz, Umweltschutz, Verbraucherschutz."

    Von diesem Wiegenlied sollte sich ohnehin nicht einlullen lassen, wer noch etwas Spannendes, Neues oder gar aufregende Experimente von der Kultur erwartet. Aber das haben die Kulturschützer wohl auch gar nicht im Sinn, wenn sie nach dem Artikel 20a, dem Tierschutz, nun ein weiteres Staatsziel einfügen wollen. Zumindest, so das auf der Tagung in Neuhardenberg oft wiederholte Hilfsargument, kann es nicht schaden, wenn auch die Kultur im Grundgesetz steht. Für den Juristen Peter Raue ist das mehr als nur ein Stilbruch:

    "Es erleichtert natürlich die Forderung, wenn die Tiere im Grundgesetz krabbeln und bellen dürfen, warum soll sich nicht dort die Kultur ein Nest bauen? Aber Shakespeare hat eben doch recht, wenn er schreibt: 'Sündentsprossene Werke erlangen nur durch Sünde Kraft und Stärke.' Allerdings sagt das Richard III. - nach dem fünften Mord auf dem Wege zum sechsten Mord. Das sollte uns zu denken geben!"

    Abgesehen davon, dass "Schutz" auch auf Stillstand hinauslaufen kann und dass gerade der Kultur allzu kuschelige Verhältnisse noch nie gut getan haben. Abgesehen davon, dass für Matthias Lilienthal Stadtteater keine unbedingt schützenswerte Spezies sind: Die nüchterne Logik von Juristen wie Raue, Steiner und auch dem Neuhardenberger Gastgeber Bernd Kauffmann ist allemal der unbeherrscht gestikulierenden Symbolpolitik jener Zeitgenossen vorzuziehen, die eine gar nicht näher definierte "Kultur" als Wert an sich, ja als Allheilmittel propagieren.

    Das brachte, nach einer für das Thema "Staatsziel" unerwartet lebhaften Debatte, der Nicht-Jurist Thomas Macho auf den Punkt: Kein Kulturfunktionär, sondern ein Kulturwissenschaftler - der in Neuhardenberg ganz einfach aus der Sicht des interessierten Bürgers, des aufgeklärten Citoyen fragte:

    "Kann da vielleicht auch ein Kulturverständnis dahinterstecken, mit dem ich gar nicht einverstanden bin? Zum Beispiel wieder eine Leitkulturdiskussion - die ich gar nicht will. Wir diskutieren im Wesentlichen so viel über Kultur, dass es vielleicht richtiger wäre, darüber nachzudenken und zu diskutieren, was eine Verfassung ist. Und darüber nachzudenken, ob nicht ein Verfassungspatriotismus als Tugend etwas ist, was für uns wichtiger und interessanter ist - insbesondere mit Blick auf die gescheiterte europäische Verfassungsdiskussion - als die Frage nach der Kultur?"