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Kultur auf der Kurischen Nehrung

Der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann erfüllte sich 1929 einen kleinen Wunsch. Der Schriftsteller ließ sich auf der Kurischen Nehrung ein Ferienhaus bauen. Das Thomas-Mann-Haus steht heute noch und ist das Zentrum eines alljährlichen "Thomo Manno Festivalis".

Von Sabine Adler | 20.07.2013
    Michail Gorbatschow erlaubte 1987 erstmals Ausländern wieder die Kurische Nehrung und Westlitauen zu besuchen, das ehemalige Sperrgebiet. Das Ehepaar Täger aus Dortmund, er Jurist, sie Deutschlehrerin, gehörten zu den ersten sogenannten Heimwehtouristen und Zeugen der Stunde Null des Festivals.
    Jürgen Täger: "Per Zufall haben wir das erste Festival vor 17 Jahren miterlebt. Meine Frau ist in Ostpreußen auf der anderen Seite im Kaliningrader Gebiet geboren. Es gefällt uns dort nicht so sehr, weil dort vieles kaputt ist. Das erinnert sie an ihre Heimat und deshalb sind wir jeden Sommer hier. Die Musik finde ich sehr interessant, die Wortprogramme weniger, weil immer weniger Bezug zu Thomas Mann selbst da ist."

    Johanna Keller, die als Leiterin des Goethe-Instituts in Litauen mit im Festival-Kuratorium sitzt, und die Kritik kennt, erklärt, warum die Veranstalter den Bogen so weit spannen.

    Johanna Keller: "Wenn man sich zum Beispiel das Musikprogramm anschaut: Das ist natürlich keine 1:1-Beschäftigung mit Thomas Mann als Literaten, sondern auch eine Beschäftigung mit Zeitgenossen, mit der musikalischen Gedankenwelt zu der Zeit, auch mit litauischen Strömungen. Gestern hatten wir zum Beispiel den Abend der litauischen Musik, wo es um drei Komponisten zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging, also eben auch die Entstehung des litauischen Nationalgeistes, was die Gedankenwelt widerspiegelt, in die er dann wiederum später gekommen ist."

    Eine Diskussion oder Lesung am Nachmittag, danach eine Ausstellungseröffnung, am Abend ein Konzert, nachts Kino – nur morgens bleibt Zeit zum Baden oder Wandern auf den großen Ostsee-Dünen.

    "Ich freu mich ganz besonders auf die litauische Musik oder auf die baltische oder finnische Musik. Die suchen wir bei uns. Und auch auf die litauischen Volkslieder", sagt Heidegard Täger.

    "Die Lieder sind sehr sehr alt, die älteste Musik ist wahrscheinlich die kurische Musik, die wir gar nicht mehr hören können, aber auch im südlichen Bereich Litauens gibt es uralte Musik, die bis heute erhalten ist, die man heute singen kann, die man gesammelt hat. Und in den Volksliedern hört man die Melancholie heraus, es ist eine weiche, sinnliche Melancholie in allen Liedern."

    In seinen Tagebüchern und im "Doktor Faustus" äußerte sich Thomas Mann ausführlich über Musik, in Nidden, auf der Kurischen Nehrung, schrieb der Literatur-Nobelpreisträger "Josef und seine Brüder", aber hier verging kein einziger Tag der Familie Mann ohne Klassik, erklärt die Historikerin Ruth Leiserowitz:

    "Sie hatte einen Plattenspieler mit, sie hat Platten gehört. Auch viel Lieblingsmusik von Thomas Mann, zu der zum Beispiel Richard Wagner zählt. Die Kinder hatten ihre Geigen mit, Elisabeth und Michael, und es wurde hier auch Hausmusik gemacht. Und Nidden lag im Einflussbereich des Senders Königsberg, einer größten und stärksten Rundfunksender Deutschlands. Die Familie hatte ein batteriebetriebenes Radio und hörte abends Konzertübertragungen aus Königsberg."

    Das Kuratorium versteht den Schriftsteller als Europäer, der Verantwortung anmahnte und mitunter provozierte. Das inzwischen internationale Publikum verjüngt sich, auch weil Deutschtümelei keinen Platz bekommt. Während der Perestroika befürchteten die Litauer, dass die Kurische Nehrung regermanisiert werden könnte. Heute sind das Ängste von gestern, zumal das Festival die spätere Rolle des Hauses während des Kommunismus aufgriffen hat: nämlich Heimstatt für unabhängige Geister zu sein.

    "Nachmittags saß man auf der Terrasse, fernab von den Überwachungsmechanismen des KGB. Und redete über Themen, über die man in den Hauptstädten der Sowjetrepubliken nicht reden konnte. Zum Beispiel über Thomas Mann und Sigmund Freud. Thomas Mann war quasi der Schirm, unter dem sich viele intellektuelle Debatten entspannen konnten und wo es viele intellektuelle Vorgespräche gab, aus denen sich später 'Sajudis', die nationale Unabhängigkeitsbewegung erwachsen ist."

    Über den streitbaren Europäer Thomas Mann, der den Deutschen die Demokratiefähigkeit und -liebe abgesprochen und den Polen das ergebnislose Politisieren vorgeworfen hat, wurde unter anderem dieses Mal diskutiert, im Filmprogramm lief das polnische Kriesgsdrama "Rosa", und zu Ende geht das Festival mit Händel und Bach und dem Kaunas-Quartett sowie Aidija-Kammer-Chor aus Litauen.