Dienstag, 19. März 2024

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Kultur für Demenzkranke
"Kunst kann Erinnerung reaktivieren"

Wenn Menschen mit Demenz an Kunst herangeführt werden, "passieren erstaunliche Sachen", berichtet Demenzforscher Johannes Pantel im Dlf. Ruhige Bilder, das menschliche Gesicht und das Zwiegespräch mit der Kunst könnten Demenzkranken helfen ihre Lebensqualität zu verbessern, so der Wissenschaftler.

Johannes Pantel im Gespräch mit Beatrix Novy | 21.07.2018
    Eine Führung für Demenz-Patienten in der Kunsthalle Bielefeld
    Führung für Menschen mit Demenz-Erkrankung (picture alliance / dpa)
    Beatrix Novy: Kunst ist universell in dem Sinn, dass jeder sie ausüben kann. Es braucht dazu keine Ausbildung, keinen Schulabschluss, nicht einmal eine solide geistige Verfassung. Ehrfurchtgebietende Kunst schufen die Höhlenbewohner der Steinzeit und die Patienten der psychiatrischen Klinik Gugging in Österreich. Und anders herum: Kunstverständnis äußern auch Menschen, die sich ansonsten wenig äußern können. Demenzkranke zum Beispiel.
    Professor Johannes Pantel ist Professor für Psychiatrie und Leiter des Arbeitsbereichs Altersmedizin an der Goethe-Universität Frankfurt. Er steht für ein Projekt, das Menschen mit Demenz an die Kunst heranführt - zu welchem Zweck, das wird er uns erklären. Zunächst geht an ihn die Frage: Wie neu ist dieses Konzept? Kunsttherapie gibt es ja heute in praktisch jeder psychotherapeutischen Einrichtung.
    Johannes Pantel: Der Einsatz von Kunst im weitesten Sinne, oder auch von kreativen Tätigkeiten ist schon auch bei der Demenz nichts Neues in dem Sinne. Das findet teilweise auch in therapeutischen Einrichtungen statt im Sinne der klassischen Kunsttherapie.
    Bei uns ist allerdings die neue Idee, dass wir Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen in das Museum holen, dass wir sie in einen Kulturraum holen, in dem auch sonst üblicherweise Kunst vermittelt wird. Wir bezeichnen das dann zunächst mal nicht als Therapie, sondern wir bezeichnen das als ein Museumsangebot für Menschen mit Demenz.
    Novy: Und grundsätzlich ihre Angehörigen?
    Pantel: Und ihre Angehörigen, weil wir davon ausgehen, dass 70 Prozent, ein sehr großer Anteil von Demenz-Kranken, von ihren Angehörigen zuhause betreut werden, dass die Beziehung zwischen dem Erkrankten und dem Angehörigen eine wichtige, zentrale Rolle in der Betreuung einnimmt, für das Wohlergehen, für die Lebensqualität. Und weil wir hoffen, mit unserem Museumsangebot auch positiv auf diese Beziehung einwirken zu können.
    Das menschliche Gesicht als Oberthema
    Novy: Nun kann man ja auch in den Zoo gehen oder sonst wohin. Was versprechen Sie sich genau vom Museumsbesuch?
    Pantel: In unserem Museumsprojekt findet eine speziell konzipierte Führung statt für diese Zielgruppe. Das heißt, wir sehen hier die Kunst, die bildende Kunst als das wesentliche Medium, weil Kunst selbst zunächst einmal auch ein Medium ist, was nonverbal wirkt, was nonverbal auf Emotionen Einfluss nimmt, was nonverbal auch Erinnerungen reaktivieren kann, die dann als Ressource in der Beziehung wirken.
    Darum ist es wichtig, im Rahmen dieser Führung auch spezielle Kunstwerke auszuwählen, die uns für diesen Zweck besonders ereignet scheinen. Und wir haben hier Bilder gewählt, die thematisch den Lebenserfahrungen und Biographien der Menschen, mit denen wir diese Führung machen, nahestehen. Zum Beispiel, da bei uns die Führungen ja in Frankfurt stattfinden, sind es Bilder, die Frankfurt als Ort darstellen, oder es sind Bilder, die das Thema Familie haben im weitesten Sinne. Das geht von der Darstellung der Mutter Gottes bis hin zu expressionistischen Bildern von Otto Dix mit dem Thema Familie.
    Wir haben das Thema Stillleben, weil uns Bilder besonders geeignet erscheinen, die eine gewisse Ruhe auch ausstrahlen, eine gewisse Statik, die nicht zu viel Unübersichtlichkeit in sich tragen. Wir haben das menschliche Gesicht als ein Thema, als ein Oberthema für unsere Bilder gewählt, weil das menschliche Gesicht für die nonverbale Kommunikation eine große Rolle spielt. Das heißt, wir knüpfen hier an eine Ressource an in der Wahrnehmung, in der ganzheitlichen Wahrnehmung von Kunst, die auch Demenz-Kranken noch zur Verfügung steht.
    "Da passieren erstaunliche Dinge"
    Novy: Aber die Vermittlung erfolgt ja nicht nonverbal. Sie haben ja gesagt, das sind Führungen. Wird den Demenz-Kranken, die Sie zu den Bildern bringen, auch etwas erklärt, so wie das bei einer normalen Museumsführung ist?
    Pantel: Nein, das ist genau nicht der Fall. Die Führung besteht darin, dass die Gruppen oder Teilnehmer an diese Bilder herangeführt werden, dass aber dann nicht Wissen vermittelt wird in einer Art Einbahnstraße im Sinne von kunsthistorischem Hintergrundwissen, sondern dass über diese Kunstwerke ein Austausch stattfindet. Es wird ein Dialog induziert, es findet ein Zwiegespräch statt, es ist letztlich eine Interaktion, die stattfindet.
    Novy: Werden die Patienten aktiv? Stellen die Fragen?
    Pantel: Die meisten Teilnehmer werden dann erstaunlich aktiv, einige auch in einer Form, wie das die Angehörigen, die ja dies begleiten, die ja selbst Teil dieser Gruppe sind, in der Zeit vorher gar nicht mehr gekannt haben. Hier wird etwas im positiven Sinne auch angeregt bei den Teilnehmern. Und wir wollen das dann nicht verpuffen oder einfach im Raum stehen lassen, sondern im Anschluss an diese Führungen bieten wir den Teilnehmern eigenes kreatives Arbeiten an. In den museumseigenen Ateliers, wo sie dann mit einfachen Mitteln, aber auch unter Anleitung gestalten können in Anlehnung dessen, was sie dort in der Führung erfahren haben.
    Novy: Und Sie stellen dann fest, dass sie sich beziehen auf das, was sie vorher gesehen haben?
    Pantel: Ganz genau. Da passieren erstaunliche Dinge bis hin zu tatsächlich der Reaktivierung von alten Erinnerungen. Dieses Gestalten findet ja auch immer in dieser Diade statt. Ein Angehöriger mit dem Demenz-Erkrankten gestaltet dann so ein Bild oder so eine Plastik, und in diesem Prozess dann, in diesem gemeinschaftlichen Prozess werden auch Dinge wieder zum Thema, die teilweise verschwunden waren, oder die verschüttet waren.
    Ein kleiner Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität
    Novy: Sie holen Fähigkeiten ans Licht, oder stärken die, die im Patienten noch vorhanden sind. Hat das einen Einfluss, ob Patienten vorher kunstinteressiert oder auch praktizierend waren, oder spielt das keine Rolle?
    Pantel: Das spielt zunächst einmal keine Rolle. Wir machen keine Voraussetzungen in dem Sinne, dass jemand spezielle Vorbildung oder Vorwissen mitbringen muss, oder dass jemand spezielle Fertigkeiten im künstlerischen Sinne mitbringen muss. Auch wenn jemand das nicht hat, ist das auch keine Einschränkung. Die Wirkungen werden trotzdem erzielt.
    Natürlich gibt es aber auch Teilnehmer, die speziell solche Voraussetzungen schon mitbringen, und da haben wir zum Beispiel verschiedene Fälle gehabt, wo ein an Demenz erkrankter Teilnehmer ermutigt wurde, einmal wieder die Staffelei zuhause herauszuholen, oder wo dann die begleitende Angehörige gesagt hat, wir kaufen jetzt einmal wieder Papier, Leinwand oder Farben. Wir sind jetzt dadurch gewissermaßen stimuliert worden, ermutigt worden, das wiederzubeleben.
    Novy: Das wäre ein Beispiel für eine langfristige Wirkung. Wie ist das im Allgemeinen? Ist das dann so ein kurzer Moment, zwei Stunden im Museum, ich schaue mir was an, ich bin danach auch praktisch aktiv, aber sonst passiert nichts? Oder hat das auch - und das ist doch wahrscheinlich auch ein Wunschziel - den Effekt, dass auch an der Demenz selber sich was bessert?
    Pantel: Ja. Wir haben die Wirkungen dieses Angebots auch wissenschaftlich untersucht, im Rahmen einer kontrollierten Studie, und tatsächlich diese kurzfristigen positiven Effekte nachweisen können - teilweise in einer erstaunlichen Größenordnung. Langfristige Effekte, die etwa über einen Zeitraum von Monaten hinausgehen, haben wir mit unserer Methodik nicht erfassen können. Wir haben hier nur Berichte von Angehörigen, die daran teilgenommen haben, die darauf hinweisen, dass das auch so ist.
    Das sind aber, wohl bemerkt, keine Effekte, die den Krankheitsverlauf an sich beeinflussen können. Das heißt, die Krankheit schreitet auch da ungehindert weiter. Aber die Idee ist, dass man diese Zeit mit der Krankheit in einer besseren Lebensqualität verbringen kann. Oder dass man zumindest einen kleinen Beitrag mit so einem Angebot machen kann, was die Lebensqualität verbessert - auch in der Betreuung.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.