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"Kultur ist in Georgien zu Hause"

Schossig: Es gibt ja einen kaukasischem Patriotismus. Es war ausgerechnet der Georgier Stalin, der die kaukasischen Bergvölker als "Banditen" verunglimpfte. Wie nationalistisch ist Georgien heute?

    Belkania: Man muss natürlich die Geschichte Georgiens kennen. In der neueren Zeit hat Georgien nie staatliche Unabhängigkeit erlangt. Dann kam der ältere große Bruder Russland, der zwei Jahrhunderte lang in Georgien herrschte. Georgien war eine Kolonie von Russland geworden. Aber: Wenn man jetzt Nationalismus oder das Nationale - die Bewegung von Saakaschwili heißt ja "die Nationale Bewegung" - nimmt, ist damit etwas vollkommen anders gemeint als es das hier wäre. Hier hat man bei diesem Begriff einen ganz anderen Hintergrund. Das ist ja bekannt. Aber in Georgien, wo nie staatliche, nationale Identität stattgefunden hat, wird das als Suche nach dieser staatlichen Identität verstanden. Wenn man weiß, dass in Georgien über 80 nationale Identitäten jahrhundertelang so friedlich gelebt haben wie die Juden – und das schätzen die Juden auch, die in Georgien immer gut aufgenommen wurden –, weiß man ja auch, dass die Probleme mit den Nationalismen und den ethnischen Konflikten – das sind ja die Probleme, die die Sowjetunion mit sich gebracht hat – als Sprengstoff schon am Anfang der Sowjetunion eingesetzt haben. Nach der Auflösung der Sowjetunion hat es das ja auch wirklich gesprengt. Das haben wir gesehen.

    Schossig: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten sehr viele europäische Minderheiten, auch viele Künstler, Journalisten, Akademiker, in Georgien. Solch ein Multikulturalismus scheint ja heute zu einer nationalen Hypothek zu werden. Wie sieht es heute aus? Wie offen ist dieses Land eigentlich? Welche Rolle spielt auch internationaler Einfluss für die Opposition?

    Belkania: Es ist schon so, dass all diese Oppositionellen, die die Anführer dieser nationalen Bewegung gewesen sind, die eigentlich volle Unterstützung von der Bevölkerung – und zwar nicht nur von der georgischen, sondern auch von den anderen – bekommen haben, westlich orientiert sind. Sie sind zum Teil auch in Amerika oder woanders im Westen ausgebildet worden.

    Schossig:...wie Michail Saakaschwili...

    Belkania:... oder Burdschanadse auch, die Parlamentsvorsitzende, die interimistisch auch Präsidentin geworden ist. Das heißt, die Bewegung, die von den beiden geleitet wurde, ist dafür, dass die westlichen Werte wie Demokratie und Bürgerrechte in Georgien bewahrt werden. Das alles ist ja bei diesem chaotischen Zustand in Georgien nicht der Fall gewesen. Es gab eklatante Fälle von Verletzung der Menschenrechte, auch in Gefängnissen, mit der Art, wie man dort die Häftlinge behandelte. Es war eine große Gnade von Schewardnadse, dass er diejenigen inhaftiert hat, die vielleicht ein Huhn gestohlen haben. Nie hat er aber diejenigen inhaftiert, die Millionen oder Milliarden von westlichem Geld in die eigene Tasche gesteckt haben. Die anderen etwa 95 Prozent leben ja unter der Armutsgrenze.

    Schossig: Sie haben gerade vom Träumen gesprochen, Herr Belkania. Was ist der Traum der Opposition? Sie haben es eben so geschildert, dass diese Opposition nationale Identität mit kosmopolitischer Offenheit mischt. Könnte man das so sagen?

    Belkania: Ich würde das Wort Synthese bevorzugen. Einerseits das, was man in Europa schon vor Jahrhunderten erlangt hat, nämlich nationale Unabhängigkeit. Sie wissen das ja viel besser, wie es zu Anfang der Neuzeit war, als die Bibel in alle Sprachen übersetzt wurde. Diese Unabhängigkeit musste kommen, damit die europäische Kultur dann später blühen konnte. In Georgien war diese nationale Identität ja nie erreicht worden. Im Westen sind Nationalität und Staatsangehörigkeit identische Begriffe. In Georgien ist das noch nicht so: Man unterscheidet zwischen dem Nationalen und der Staatsangehörigkeit. Das ist eine merkwürdige Tatsache, aber es ist nun einmal so. Diese Synthese von eigener Identität, bürgerlicher Aktivität und den westlichen Werten, die man übernehmen und erlernen muss vom Westen - danach strebt diese Opposition.

    Schossig: Den Kulturschaffenden im Lande der Dichter – so heißt Georgien ja auch – steht also genug Arbeit bevor. Haben sie aber auch das Potential an engagierten Intellektuellen und Künstlern zur Verfügung? Oder gibt es im Augenblick mehr Zynismus, der angesichts der schwierigen Situation ja auch berechtigt wäre?

    Belkania: Eigentlich war das, was der Opposition zum Sieg verholfen hat, die Unterstützung von den Intellektuellen, von den Dichtern, die Sie erwähnt haben, von den jüngeren Dichtern, die wunderbare Gedichte schreiben und auch das Gefühl dafür haben, dass sie diese Demonstranten unterstützen müssen. Georgien ist ein Kulturland. In Georgien kann man nichts aus staatlicher Weisheit lernen, aber von der Kultur kann man viel lernen. Kultur ist in Georgien zu Hause.