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Kulturhauptstädte im Wettbewerb

Eine Containerbaracke. Zwei Soldaten in Uniform kontrollieren die Pässe. Polnische Jugendliche werden gefilzt, wer den deutschen Pass hochhält, wird durch gewunken. Wenige Minuten sind es zu Fuß von Polen nach Deutschland. Eine Brücke über die Neiße, sie verbindet die eine Stadt mit den zwei Namen Görlitz und Zgorzelec.

Von Ulrike Greim |
    Zum Einkaufen geht man rüber, sagt der Mann auf der Straße, vor allem für Zigaretten. Und die Polen kommen als Mülltouristen herüber, sagt er abfällig. Und dann erzählt er, dass polnische Jugendliche klauen und sich prügeln, und die Polizei tatenlos zusieht. So sei das mit den offenen Grenzen. Dabei ist Görlitz eine Perle, meint das bündnisgrüne Stadtratsmitglied Folkmar Drechsel. Weil: früher eine reiche Stadt.

    Also erst war's Tuchmacherstadt, und durch Handel - via regia - Salz - Handelsstadt, dann Industriestadt und Görlitz war die Rentnerstadt. Die haben sich hier nach Görlitz zurückgezogen, weil Görlitz so ne schöne Stadt war.

    Preußische Offiziersfamilien ließen sich nieder. Heute reihen sich in der Innenstadt frisch sanierte Gründerzeitvillen aneinander. Jugendstilpaläste zeigen den Glanz vergangener Zeiten.

    Görlitz ist ja als Stadt Flächendenkmal. Und ist auch einmalig in Deutschland, wo alle Baustile der Jahrhunderte erhalten sind, weil im Krieg nicht zerstört, das gibt's nicht wieder. Und so was, was sie in Hildesheim gemacht haben, dass sie die weggerissenen Häuser naturgetreu wieder aufgebaut haben, das ist auch selten, aber hier in Görlitz stehts eben noch.

    Jenseits der Neiße: abgelebte Wohnblocks, billige Geschäfte, gesichtslose Fassaden. Nun sollen Brücken gebaut werden, äußere und innere. Kulturstadtmanager Peter Baumgart will sich für zweisprachige Grundschulen und Gymnasien einsetzen, das Netzwerk Neiße-Universität solle trinational ausgebaut werden.

    Auch Potsdam wirbt damit, Knoten zwischen Ost und West zu sein. Eine Brücke nach Osteuropa. Das ist eine Vision, müsste man - dem Duktus der Kulturhauptstadt-Ausschreibung folgend - sagen. Denn es geht um Träume. "Stell dir vor..." ist der Slogan, und er spielt an auf die immer schon großen Phantasiegebäude, die hier entworfen wurden. Nach dem Willen der Landschaftsarchitekten des großen Kurfürsten sollte - Zitat "das ganze Eiland ... ein Paradies werden". Babelsberg produzierte Sehnsuchtsstreifen, wie den "Blauen Engel". Schinkel entwarf die Nikolaikirche. Potsdam sei die vielleicht visionsgeprägteste Stadt Europas, meint der dortige Kulturstadtmanager Moritz van Dülmen vollmundig. Und träumt von einer riesigen Landschaftsinstallation in den Kulissen der Stadt.
    Zurück in Görlitz. Beim Rundgang durch die Innenstadt wird schnell deutlich, welchen Aderlass die Region erlebt. Selbst an vielen Fenstern der Gründerzeithäuser kleben Schilder: provisionsfrei zu vermieten. Gutausgebildete junge Leute gehen weg. Nur weg.

    Die Stadt Görlitz hatte zur Wende rund 80.000 Einwohner, jetzt sind es noch 60.000. Es sind ja kaum Berufsmöglichkeiten. Industrie ist kaputt gemacht worden. Das Kraftwerk, was viele beschäftigt hat, ist nicht mehr. Die Handwerker haben zu kämpfen, Baubetriebe sind schon kaputt gegangen. Also es ist wirklich schon 'ne kritische Lage hier.

    Stadtrat Drechsel verbreitet den ortsüblichen Pessimismus. Den teilt er sich mit vielen. Auch vielen Hallensern.

    Die graue Diva wird sie genannt, die Stadt an der Saale. Hier in Halle wird die gelegentliche Gründerzeitidylle jäh gebrochen mit sozialistischem Realismus. Plattenbauten fallen eher ins Auge, als barocke Denkmäler. Auch hier zieht es die Menschen weg. Zu wenig Kinder werden geboren. Halle machte aus der Not die Tugend und erklärt den demografischen Umbruch zum Thema der Kulturhauptstadtbewerbung. "Halle verändert", heißt das Motto, und es will sagen: wir wollen schauen, wie man das macht. Wie bewältigt man einen radikalen gesellschaftlichen Umbau. Die Stadt im Chemiedreieck Leuna, Schkopau, Bitterfeld besinnt sich auf den Pietisten August Herrmann Francke, und wie er soziale und kulturelle Standards gesetzt hat. Die Stadt, die zu DDR-Zeiten ihr Bildungsbürgertum klein gehalten hat, freut sich an Peter Sodann, alias Kommissar Ehrlicher, und seinem "neuen theater". Kunst und Design spielen wieder eine Rolle. Und der große Sohn der Stadt, Georg Friedrich Händel, hat bereits sein jährliches Festival.
    Zurück in Görlitz: das heilige Grab. Eine Kopie des Jerusalemer Grabes Jesu. Eine Pilgerstätte. Heiliger Schauer überfällt die Gläubigen, die aus allen Richtungen her strömen. Eberhard Kulke führt sie durch das Areal.

    Und diese einzigartige Doppelkapelle resultiert aufgrund des Erdbebens in der Todesstunde Christi. Und wenn wir jetzt eintreten in diese Golgatha-Kapelle, dann sehen sie den Felsspalt, den sie in der Senkrechten in der Adamskapelle gesehen haben, den sehen sie jetzt hier in der Waagerechten.

    Der alte Adam und der neue Mensch - ein Thema, mit dem Martin Luther in Wittenberg gerungen hat, und die Bedeutung der Taufe fand. Wittenberg rühmt sich Luthers. Hier hat er die Thesen angenagelt, hat die Reformation eingeläutet. Heute ist Wittenberg eine historisch interessante aber leblose Stadt. Kulturstadt will sie werden im Verbund mit Dessau - durch Weill und Bauhaus etabliert - und Wörlitz mit seinem fabelhaften Gartenreich. Ein Patchwork-Angebot. Dreimal UNESCO-Weltkulturerbe.

    Görlitz, Potsdam, Halle und Wittenberg-Dessau haben reich kulturell geerbt. Mit ihren Bewerbungen soll sich zeigen, ob sie tatsächlich Brücken schlagen können zum Beispiel hin in die noch wenig entdeckten Länder im neuen Osten Europas.