Archiv


Kulturkritik in kapitalistischen und postsozialistischen Zeiten

Ab und zu passiert es, dass den Kritikern der Gegenstand ihrer Kritik irgendwie abhanden kommt. Und wenn das so ist, oder sie glauben, dass es so sei, dann veranstalten sie rasch ein Symposium um diesen Missstand wiederum zu kritisieren. Das Symposium von dem hier die Rede ist, hat in den letzten drei Tagen in der Leipziger Galerie für zeitgenössische Kunst stattgefunden und zusammengekommen sind unter anderem Kunstkritiker aus Wien, Hamburg, Graz , Sofia und London. Ausgangsthese des Symposiums war, dass sich heute sowohl in kapitalistischen als auch in postsozialistischen Gesellschaften aus verschiedenen Gründen Kritik und der Gegenstand der Kritik tendenziell verflüchtigt haben.

Von Carsten Probst |
    Eigentlich wollte man sich ja, wie es sich für ein Haus der zeitgenössischen Kunst gehört, vor allem über theoretische Probleme unterhalten. Aber dann brach die Tagesaktualität in die Debatten ein, die Unruhen in den französischen Vorstädten und die mittlerweile überaus bemerkenswerte Anzahl von über 30.000 zerstörten Autos. Auffallend wenig haben sich Intellektuelle in Deutschland bisher zu den Ereignissen geäußert Am deutlichsten positionierte sich bei dieser Tagung in Leipzig der Hamburger Autor und Kritiker Hans-Christian Dany, der gar eine ganz neue Form des öffentlichen Widerstandes in Frankreich diagnostiziert: Die Ausgegrenzten zögen nicht mehr vorrangig in die Innenstädte, vor die Paläste der Mächtigen, so Dany, sondern blieben bewusst in ihren Vierteln und zerstören sogar reihenweise die Symbole der mobilen Gesellschaft – die ihnen, den Migranten, im übrigen womöglich als Inbegriff ihrer prekären Lage erscheine.

    " Das andere ist eben dieser sehr, sehr starke Verzicht auf Parolen, die über Fernsehen kommunizierbar sind und damit halt auch für die Gesellschaft verdaubar werden Diese Form des Widerstandes wird irgendwie unverdaulich dadurch, dass sie sich nicht zum Verkommunizieren anbietet, sondern sich dem verweigert. "

    Auffallend ist ebenfalls, dass die Intellektuellen auch in Frankreich bislang kaum öffentlich zu den Aufständen Stellung bezogen haben, ein Umstand, der einerseits Danys These vom Kommunikationsentzug durch die Revoltierenden stützen könnte – jedoch vor allem zur allgemeinen Entwicklung in Europa zu passen scheint, wo die öffentliche Stimme der Intellektuellen in den letzten Jahren immer mehr verstummt und oft nur noch bemüht um mediale Initiativen ringt, die sich dann jedoch meist in öffentlichen Petitionen berufsmäßig notorischer Nonkonformisten, wie in Deutschland Klaus Staeck, Günter Grass oder Oskar Negt erschöpfen. Deren kritisches Potential könne nun mittlerweile niemanden mehr befriedigen, darüber herrscht auch bei der Leipziger Tagung ein gewisses Einvernehmen. Hans-Christian Dany versucht diese seltsame Erstarrung des kritischen Gewerbes seit der Wiedervereinigung zu analysieren:


    " Es hat ja erst eigentlich so etwas wie einen Boom gegeben, würde ich sagen, (...) auch als Reaktion auf den Nationalismus, das ist an einem bestimmten Punkt implodiert, ich glaube auch teilweise, weil man sich nicht die Zeit genommen hat, dafür eine eigene Sprache zu entwickeln, sondern zurückgegriffen hat auf vorhandene Sprachen aus den sechziger und aus den siebziger Jahren. "

    Der Kritik ist demnach schlichtweg die große öffentliche Rede abhanden gekommen, oder mehr noch: die Mühe, eine neue Sprache für neue Verhältnisse zu finden. Oder wenn es diese Bemühen gibt, spielt es sich notwendigerweise eben nicht im Lichte der Medienöffentlichkeit ab. Das ist übrigens eine offenkundige Gemeinsamkeit zwischen Ost und West seit dem Ende des Kalten Krieges. Es mangelt nicht an intellektueller Kritik auf hohem Niveau, doch anders als zu Zeiten einer Frankfurter Schule meidet sie die Durchlauferhitzer der medialen Verwurstung. Ganz Ähnliches gilt für die zeitgenössische Kunst, wie Barbara Steiner, die Initiatorin dieser Tagung, feststellt. Sie will noch nicht ganz lassen vom utopischen Kern der kritischen Intellektualität, wie sie einst schon Ernst Bloch gefordert hatte, und in ihrer angesehen Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig versucht sie gerade immer jene Kunst zu präsentieren, die ohne Rücksicht auf Verkäuflichkeit sich mit den Lebenslügen kapitalistischer Gesellschaften auseinandersetzt.

    Zu diesen Lebenslügen zählt der bulgarische Kulturtheoretiker Ivajlo Ditschew nicht zuletzt auch den Kernbegriff der Freiheit und nennt die Emigrantenströme aus osteuropäischen Staaten nach Westeuropa als Beispiel. Zu sozialistischen Zeiten sei die mangelnde Freizügigkeit ein Hauptkonflikt in den sozialistischen Staaten gewesen, so Ditschew, und eines der wichtigsten Anliegen der politischen Dissidenten. Heute dagegen, da diese Freizügigkeit äußerlich möglich sei, werde vielen deutlich, dass aus ihr eine neue Form der Unterwerfung resultiert, die Unterwerfung unter die Regeln kapitalistischen Lebens westlicher Prägung. Für Theoretiker für Ditschew folgt daraus eine ganz praktische Konsequenz: Die Kritik in Zeiten der Globalisierung wird heimatlos, nomadisch; zu einer Kundgebung mit den Füßen.