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Kulturpessimismus gestern und heute

1999, ein Jahr nach Martin Walser mit seiner umstrittenen Preisrede, bekam der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Stern hatte als 12-jähriger Junge 1938 das nationalsozialistische Deutschland verlassen müssen, weil er Jude ist, er lebt in New York und lehrt an der Columbia Universität. Ihn trieb und treibt deutsche Geschichte in ganz anderer Weise um als Walser, ein Begriff wie die "Auschwitzkeule" käme ihm sicher nicht über die Lippen. Zu seinen bekanntesten Werken zählt neben der Doppelbiographie über Bismarck und seinen jüdischen Bankier Gerson Bleichröder die Untersuchung über die Rolle des sog. Kulturpessimismus bei der Entstehung nationalsozialistischer Herrschaft aus den frühen 60er Jahren. Diese oft als Klassiker bewertete Studie, die im wesentlichen aus den Monographien drei fast vergessener, zu ihrer Zeit aber einflussreicher deutscher Autoren besteht, wurde nun bei Klett Cotta wieder aufgelegt. Das ist auch deshalb verdienstvoll, weil nicht nur Stern selbst in Gestalt des christlichen Fundamentalismus vor allem in den USA eine neue Variante dieser kulturpessimistischen Ideologie auf gefährliche Weise vordringen sieht. Hans Martin Lohmann hat Sterns Buch für uns gelesen:

Von Hans-Martin Lohmann | 12.12.2005
    Gestalten wie Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck, obwohl im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts viel gelesene und -diskutierte Autoren, sind heute kaum noch dem Namen nach bekannt. Als der amerikanische Historiker sich vor rund einem halben Jahrhundert mit ihnen und ihrem schriftstellerischen Werk beschäftigte, lag das Ende des Nationalsozialismus und des europäischen Faschismus erst wenige Jahre zurück. Nicht nur Stern, der 1938 Deutschland verlassen musste und in den USA Zuflucht gefunden hatte, trieb damals die Frage um, wie es in Deutschland dazu hatte kommen können, dass sich ein Großteil der Bevölkerung für eine Politik begeisterte, die hemmungslos nationalistisch, antiliberal, antidemokratisch und antisemitisch war und am Ende in die größte Katastrophe der deutschen Geschichte mündete. Während seine Fachkollegen die Ursachen dieser Katastrophe entweder in einem "deutschen Sonderweg" oder abwechselnd im Versagen der Weimarer politischen Institutionen, im Diktat des Versailler Vertrags und in der fatalen Rolle von Großindustrie und Finanz suchten – was ja alles nicht falsch war –, holte Stern weiter aus, indem er einen um die Jahrhundertwende virulenten Kulturpessimismus ausmachte, der in seiner spezifisch deutschen Ausprägung überaus wirkungsvoll war und vom Nationalsozialismus ohne Anstrengung in seinem Sinne assimiliert werden konnte. Stern geht von einer verbreiteten Unzufriedenheit hinsichtlich der kulturellen Identität und Eigenart der Deutschen und von scharfen antiwestlichen Ressentiments aus, die völkische Autoren wie Lagarde, Langbehn und Moeller van den Bruck in ihren Schriften mehr oder weniger eindrucksvoll artikulierten.

    Paul de Lagarde wurde 1827 als Paul Anton Bötticher in Berlin geboren. Nach dem Studium der Theologie und der Philologie wurde er schließlich Professor in Göttingen, wo er sich zunehmend der Politik zuwandte und im Laufe der Jahre zu einem der bekanntesten Kulturkritiker im kaiserlichen Deutschland avancierte. In seinen "Deutschen Schriften" versuchte er, das deutsche Volk vor den neuen, schrecklichen Gefahren zu warnen, die sein "wahres Wesen" vernichten und schließlich Deutschland selbst zerstören würden. Überall beobachtete Lagarde Verfall und Verrat, begangen von den Juden, den Liberalen und den Akademikern. Für die realen Ungerechtigkeiten, die der Kapitalismus hervorbringt, für die Ausbeutung und Entrechtung der Arbeiter interessierte er sich herzlich wenig, dafür umso mehr für das Wirken der Juden und der Liberalen, die er im Sinne einer allgegenwärtigen Verschwörung für die Übel dieser Welt verantwortlich machte. Als er 1891 starb, hinterließ er eine Reihe von Schriften und Polemiken gegen den "Zeitgeist" des Mammon, des Kommerzes und der jüdischen Unterwanderung des Pressewesens. Über die Juden schrieb Lagarde:

    "Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet. "
    Niemand, so Sterns Urteil, habe Hitlers Vernichtungswerk so genau vorhergesagt und so entschieden im Voraus gebilligt. Ein Jahr vor Lagardes Tod, 1890, erschien das Buch "Rembrandt als Erzieher". Sein Autor Julius Langbehn, 1851 in der Nähe von Schleswig geboren, hatte Kunst und Archäologie studiert, aber nach einer Karriere als "ewiger Student" nie wirklich beruflich Fuß fassen können. Sein einziger schriftstellerischer Erfolg blieb das Buch über Rembrandt, das innerhalb von zwei Jahren 39 Auflagen erreichte. Kern und Thema des Werkes ist der rabiate Angriff auf die Modernität und alle rationalistischen und wissenschaftlichen Traditionen. Langbehns Rembrandt, eine Kunstfigur, die wenig mit dem wirklichen Rembrandt zu tun hat, steht für den Affekt gegen das Klassische und für die Sehnsucht nach einer Art von Primitivismus, in dem elementare menschliche Leidenschaften freigesetzt werden, die in eine neue germanische Kultur münden. Ähnlich wie Lagarde attackierte auch Langbehn nicht die tatsächlichen Ursachen der sozialen Nöte seiner Zeit, sondern lenkte sein Unbehagen auf diffuse Phänomene wie Intellektualismus und Kosmopolitismus, welche wiederum mit dem Judentum verbunden wurden. Interessant ist, dass in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts Langbehns Kulturkritik zunehmend mit derjenigen Friedrich Nietzsches gleichgesetzt wurde, obwohl gerade dieser es war, der dem Antisemitismus mit tiefster Verachtung begegnete.

    Der Dritte in der Reihe prominenter Kulturkritiker war Moeller van den Bruck, geboren 1876 in Solingen. Er führte ein unstetes Wanderleben, drückte sich vor dem Militärdienst, indem er sich ins Ausland absetzte, und versuchte sich als freier Schriftsteller zu etablieren. Als Zeitgenosse der Weimarer Republik, die er wie alle Völkischen und Nationalen ablehnte, erstrebte er die Überwindung der in soziale Klassen und politische Parteien gespaltenen deutschen Nation durch die Propagierung eines "Dritten Reiches", in dem alle Gegensätze aufgehoben sein sollten. Der gleichnamige Titel seines Buches, 1923 erschienen, knüpft an die mittelalterliche mystische Lehre des Joachim von Fiore an, in welcher das Dritte Reich als das Reich der Erlösung und Vollendung gedacht wird. Moellers Buch konnte freilich auch direkt mit der Idee spielen, dass nach dem Untergang des ersten und der Zerstörung des zweiten Reiches, des Bismarckschen, nun eben ein drittes Reich auf der Tagesordnung stehe. Hauptfeind solchen Bestrebens war natürlich auch hier, neben der Linken, der allgegenwärtige Liberalismus:

    "Der Liberalismus ist der Ausdruck einer Gesellschaft, die nicht mehr Gemeinschaft ist. Liberalismus hat Kulturen untergraben. Er hat Religionen vernichtet. Er hat Vaterländer zerstört. Er war die Selbstauflösung der Menschheit. "

    Fritz Sterns einfühlsame Beschäftigung mit herausragenden Vertretern eines völkischen Irrationalismus fördert einen intellektuellen Typus zutage, dessen Verzweiflung an den Aporien und Widersprüchen der Moderne geradewegs zur Zerstörung jener Kultur führte, deren Bewahrung er zu verteidigen vorgab. Obwohl keineswegs nur ein deutsches, sondern ein europäisches Phänomen – man denke etwa an Figuren wie Charles Maurras und Maurice Barrès in Frankreich oder an den Spanier Miguel de Unamuno –, erzeugte dieser Typus vor allem in Deutschland ein geistiges Milieu, auf das der Nationalsozialismus ohne weiteres zurückgreifen konnte. Stern zufolge waren Lagarde, Langbehn und Moeller einerseits begabte Autodidakten, die unfähig waren, ihrem Unbehagen in der Kultur eine klare politische und soziale Kontur zu verleihen, andererseits religiöse Heilssucher, die den Deutschen den Kultus des Gefühls und des Irrationalen predigten, während sie gegen die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution zu Felde zogen. Auf die überdeutlichen Parallelen zur nationalsozialistischen Ideologie muss nicht eigens hingewiesen werden.

    Im Vorwort zur deutschen Neuausgabe seines Buches notiert Stern, dass der religiöse Fundamentalismus in den heutigen USA eine ganze Reihe von Merkmalen zeige, die ihn mit dem älteren europäischen Kulturpessimismus verbindet: Hauptfeind der religiösen Rechten sei auch heute wieder der Liberalismus, der im Namen eines religiösen Heilsversprechens und eines vorwissenschaftlichen Weltbildes bekämpft werde. Insofern muss man Sterns brillant-subtiler Analyse des politischen Ressentiments leider bescheinigen, dass sie auch ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung von erschreckender Aktualität ist.
    Hans-Martin Lohmann war das über "Kulturpessimismus als politische Gefahr" von Fritz Stern, aus dem Amerikanischen von Alfred P. Zeller übersetzt, erschienen im Verlag Klett Cotta. Das Buch hat 467 Seiten und kostet 24,50 Euro.