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Kulturwünsche 2011

Die Kulturindustrie ist ein Betrieb. Denn dort lebt es sich nicht anders als in jedem Geschäft. Was Burkhard Müller-Ullrich zur nachfolgenden Betrachtungen animierte.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Ein großer Teil des neuen Jahres ist bereits verplant. Die Aufträge sind erteilt, die Verträge geschlossen, die Künstler engagiert, die Themen festgelegt. Schauspieler und Musiker wissen, wann sie wo aufzutreten haben, Regisseure wissen, was man von ihnen erwartet, sogar Autoren und Komponisten bekommen für ihre Werklieferungen Termine gesetzt. Und die Kritiker sind ebenfalls dabei, ihre Kalender einzufärben. Sie folgen den Premierenplänen, buchen ihre Reisen und können bereits absehen, welche Nacht sie in welchem Hotel in welcher Stadt verbringen werden und bis wie viel Uhr am darauffolgenden Tag sie ihre Rezensionen an die Redaktionen übermitteln müssen.

    Die Kulturindustrie ist ein Betrieb von fabelhafter bis fürchterlicher Zuverlässigkeit. Weder machen sich die Konjunkturschwankungen, die es in der übrigen Wirtschaft gibt, hier mit vergleichbarer Geschwindigkeit bemerkbar, noch dringen die großen neuen Menschheitsprobleme in wahrnehmbarer Weise durch. Die Biologen stellen die Frage von Leben und Tod neu, die Hirnforscher lösen das verantwortliche Subjekt in elektrische Reize und chemische Substanzen auf, aber die Dichter schreiben den millionsten Roman über eine Ehekrise und das hunderttausendste Stück über arbeitslose Jugendliche, die sich schlecht benehmen.

    Vielleicht ist es ja gut, dass der Kulturbetrieb von der Außenwelt weitgehend abgekoppelt funktioniert; in jenen Zeiten, da die politischen Erwartungen an ihn höher waren, kam wenig Gutes dabei heraus. Doch für die Künstler selber entsteht dadurch eine Atmosphäre der Belanglosigkeit, in der sie leben und wirken und die sie einatmen, ohne das Muffige daran zu merken. Unter dieser Dunstglocke wird das meiste nicht aus innerer Notwendigkeit geschaffen, sondern aufgrund von betrieblicher Verpflichtung. Der Kulturbetrieb beruht im wesentlichen auf Lieferverträgen statt auf Eingebungen, auf Getriebensein, Freude und ähnlich schwer zu administrierenden geistigen und seelischen Regungen. Doch was den Kunstwerken an inhaltlicher Größe und sachlichem Ernst fehlt, wird durch beliebige Outriertheit und unbeholfene Provokation ersetzt. Irgendwie möchte man noch immer den Bürger erschrecken - auch im Jahr 2011 wird diese altbackene Plattheit hinter so mancher Aufführung stecken.

    Der Kulturkritiker befindet sich angesichts dieser Zustände in einer Zwickmühle. Denn er fühlt sich gegenüber dem Kulturbetrieb, von dem er ja ein Teil ist, grundsätzlich zur Loyalität verpflichtet. Er kann schlecht über nahezu jede Veranstaltung herfallen, auch wenn die Kunst des Verrisses schon um des Unterhaltungswertes willen dringend der Belebung und Stärkung bedürfte. Er kann aber auch aus Gründen der intellektuellen Selbstachtung nicht dauerhaft so tun, als wäre ihm die um sich greifende geistige Billigkeit der Kulturproduktion egal.

    Deshalb sieht er von letzterer lieber ab und thematisiert deren materielle Teuerung. Mit finanziellen Forderungen kann man die Feuilletons schließlich auch füllen. Und wahrhaftig: das größte Dauer-Einzelthema der Kulturberichterstattung ist die Kultursubventionierung. Ehrlicherweise ist anstelle des Kulturbetriebs auch immer öfter von der Kulturwirtschaft die Rede.

    Hier aber macht sich der Wunsch geltend, es möge dieses Jahr neben diesem von seinen zahllosen Verwaltern bewirtschafteten Betrieb auch das eine der andere Kulturerlebnis geben, das wie ein jäher Sonnenstrahl aus matsch grauem Himmel hervorbricht, unverhofft und ungezwungen, eine Manifestation von blendender Schönheit, die wir in der Kunst zu suchen uns immer noch berechtigt fühlen.