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Kunert

Karin Beindorff |
    DLF: Wir sitzen zusammen aus Anlass des Jahrestages der Deutschen Einheit. Neun Jahre ist es jetzt her, neun Jahre liegt die Vereinigung zurück. Ist für Sie, Herr Kunert, der 3. Oktober ein Feiertag?

    Kunert: Ja und nein - muss ich sagen. Also kein Tag, an dem ich feiere, aber doch ein Datum, das mich mit einer gewissen Zufriedenheit erfüllt. Denn dieser Zustand der Teilung war ja eine ganz trostlose Geschichte, und ich fand das eigentlich schon richtig und gut - trotz aller Einwände, die ich zum Teil auch habe, trotz der so seltsam aufgekommenen Ostalgie in den neuen Ländern ist es dennoch gut, dass es sich so entwickelt hat. Das muss ich sagen.

    DLF: Es gibt ja zwei große Strömungen, wenn man über Nationales im Moment redet. Auf der einen Seite kann man sehen: Es gibt eine Zeit des Denkens in größeren Zusammenhängen, man redet über die Europäische Union, über die Vereinten Nationen. Auf der anderen Seite denkt man in kleineren Zusammenhängen. Man spricht von regionalen Fragen. Das geht in Europa wieder hin bis zu so etwas wie einer Art völkischem Separatismus. Was bedeutet eigentlich der Begriff ‚Nation', ‚Nationale Identität' noch?

    Kunert: Ich glaube, er bedeutet - abgesehen von den Rechten und ganz Rechten - in Deutschland sehr wenig. Und ich muss sagen, dass diese 40 Jahre der alten Bundesrepublik es erreicht haben, dass es doch so etwas wie ein Regionalbewusst-sein gibt. Ich lebe ja in Schleswig-Holstein. Also, für die Schleswig-Holsteiner kommt ihr Land als allererstes. Die Nation liegt ganz weit weit weg, fern - ist gar nicht so interessant. Das ist vielleicht eine gewisse Introversion hier in dem Lande, aber es hat etwas Tröstliches. Das heißt also, man glaubt nicht an höhere Prinzipien, die ja doch so etwas nebulös und mythisch sind. Und die guten Schleswig-Holsteiner kümmern sich also im ihren eigenen Dreck - wie man sagen muss - und pflegen ihre regionale Identität - was man ja auch in anderen alten Bundesländern beobachtet. Ich glaube, das ist eine ganz gute Barriere gegen einen möglichen verblendenden Nationalismus. Ich sehe den nirgends.

    DLF: Herr Kunert, Sie sind 1979 aus der DDR in den Westen gekommen. Sie sind aus der DDR ausgezogen - im Streit; darüber werden wir sicher später noch sprechen -, sind nach Schleswig-Holstein gezogen - Sie haben es schon erwähnt. Sie kennen diese Etiketten ‚Ossi' und ‚Wessi'. Sind das für Sie Begriffe, die heute zählen? Fühlen Sie sich als Ostdeutscher, oder spielt das gar keine Rolle?

    Kunert: Das spielt überhaupt keine Rolle. Ich empfinde mich als ein Individuum, das in der Literatur lebt und das da seine Heimat gefunden hat. Ich war relativ früh ‚entheimatet', und Schleswig-Holstein konnte - ich bin ja mit 50 Jahren weggegangen - nicht mehr Heimat werden. Also, Heimat kann nur sein, da, wo man mit den Kindern im gleichen Buddelkasten gespielt hat oder in dieselbe Schule gegangen ist, wo man wirklich tief verwurzelt ist. Aber mit 50 Jahren irgendwo hinzu-gehen - da schlägt man keine Wurzeln mehr. Aber ich bin hier zu Hause. Das ist mein Zuhause, und mit den Menschen hier komme ich sehr gut aus. Auch die kommen mit mir ganz gut aus. Das heißt, ich fühle mich hier einigermaßen wohl. Aber wie gesagt: Eine Heimat habe ich nirgendwo.

    DLF: Sie haben kürzlich mal - in diesem Sommer war's - in einem Artikel geschrie-ben - ich zitiere das mal wörtlich: ‚Ein Hauptmerkmal der unaufhörlich wirksamen Vergangenheit war eben das Verlangen nach Korrektur des Gewesenen, dessen Faktizität man schwerlich ertragen mochte'. Das ist nicht schwer zu erraten, es bezieht sich natürlich auf die deutsche Geschichte und auf mehrere Phasen der deutschen Geschichte, nicht nur auf eine. Was bedeutet dieses Verlangen nach Korrektur des Gewesenen in diesem Jahrhundert für die Vereinigung der beiden Deutschlands? Beginnt das mit einer Lüge möglicherweise oder mit mehreren Lügen?

    Kunert: Nein. Ich glaube schon, dass der Mensch, dieses merkwürdige Wesen, sehr ungern in Konfliktsituationen lebt - nicht gern im Konflikt mit anderen oder mit höheren Mächten oder gar mit sich selber. Also, der Mensch ist ein konfliktscheues Wesen, harmoniesüchtig. Und das heißt also, dass er immer danach strebt, das größtmögliche Maß an individueller und allgemeiner Harmonie zu finden oder auf irgendeine Weise mit herzustellen. Das bedeutet aber, dass alles Unangenehme, Störende, das Gewissen Belastende verdrängt oder gar vergessen wird. Und insofern glaube ich schon, dass die Vereinigung nicht nur durch äußere wirtschaft-liche und politische Dinge vollzogen worden ist, sondern auch durch diesen psychi-schen Zustand. Die Menschen in der DDR, wie auch immer sie in die Nischen sich zurückzogen, lebten doch ständig im Bewusstsein, in einem Staat zu existieren, der mehr oder minder unerträglich war und in dem sie durch ein falsches Wort - einen falschen Schritt - sofort in Konflikte gebracht worden wären. Das ist natürlich auf die Dauer ein trostloses leben. Und das heißt, dass die Sehnsucht nach einem anderen Leben - vornehmlich eben konfliktfrei - leichter und erträglicher sehr groß war. Und ich glaube, dass diese psychische Vorbedingung mit dazu beigetragen hat, dass die Leute auf die Straße gegangen sind, dass die Leute auch vom Staat sich distanziert haben in den späteren Jahren. Dieses psychische Moment ist eigentlich bis jetzt immer zu kurz gekommen bei allen Betrachtungen.

    DLF: Aber wenn Sie von der ‚Korrektur des Gewesenen' sprechen oder geschrieben haben, wie wirkt sich das heute aus? Das bezieht sich ja wahrscheinlich - wenn ich das richtig verstehe - nicht nur auf die DDR, auf den Wunsch sozusagen, rückwirkend vielleicht das eine oder andere besser zu malen, als es tatsächlich war. Es bezieht sich auch auf andere Teile der Geschichte.

    Kunert: Dieser psychische Defekt, an dem wir eigentlich alle leiden, ist genau so verantwortlich für das, was man jetzt eben Nostalgie oder Ostalgie nennt. Es ist auch nichts anderes, als die Vergangenheit leicht zu vergolden, um sich die Auseinander-setzung damit zu ersparen, denn das würde ja auch wieder zu Konflikten führen. Man müßte sich fragen: ‚Was habe ich denn durch mein Schweigen oder Nichtstun mit bewirkt? Inwieweit bin ich mit schuldig geworden? War ich Mitläufer?' Also, dieses Verdrängen der Vergangenheit ist ein tatsächliches Ergebnis auch dieser Harmonie-sucht eben auch mit sich selber. Man möchte gerne natürlich besser gelebt haben, als man es eigentlich hat. Und dann kommt hinzu: Bei den jüngeren Leuten findet man das ja gar nicht, sondern eben bei den Leuten, deren Leben die DDR bedeutet hat. Da ist es auch insofern ganz eindeutig, dass ältere Leute - also die am Ende der DDR älter waren - ihre Jugend oder ihre beste Lebenszeit in der DDR hatten. Und sie möchten natürlich nicht auf diese ihre eigene Vergangenheit ablehnend blicken - sage ich mal. Ich vergleiche nie das Dritte Reich mit der DDR, das kann man gar nicht, ich setze es nicht gleich. Aber gewisse seelische Mechanismen sind ähnlich. Nach 45 dauerte es gar nicht lange, und dann hieß es ja: ‚Ach, so schlecht war es gar nicht. Mit den Juden hätte Hitler nicht machen sollen, aber - ja, wir haben doch auch gelebt, und es gab KdF und die Ausflüge, wir haben Geld verdient und es ging uns ja gut, bis es dann schlecht ging'. Ganz klar: Die Leute, die jüngeren, die jungen, oder die Kinder waren, die in diesem System aufgewachsen sind, haben durch diesen Mechanismus bewirkt, ihre eigene Biographie ein bisschen aufzupolieren - lebensnotwendig, ich kann das völlig verstehen. Wenn man das nicht kann, wenn man seine eigene Vergangenheit ganz klar und ohne Schleier sehen muss, ist es schwer zu ertragen. Und die meisten Menschen sind nicht in der Lage, auf sich selber kritisch zu sehen.

    DLF: Nun war ja die nationalsozialistische Vergangenheit eine gemeinsame Vergangenheit. Dann kam sozusagen die Teilung. Glauben Sie, dass heute durch diese Teilung auch - dank der Tatsache, dass eben die beiden Deutschlands sozusagen auf unterschiedlichen Seiten des Kalten Krieges standen, die Arbeit an der DDR-Vergangenheit erleichtert oder eher erschwert wird?

    Kunert: Ich glaube, schon eher erschwert, wobei man natürlich auch nicht vergessen darf, dass die deutsche Geschichte, die deutsche Misere, selbstverständ-lich auch nach 45 fortwirkte. Ich bin nämlich der Meinung, dass Geschichte - es ist ja nicht etwas, das, wie wenn man ein Kalenderblatt abreißt, wegwirft, es beginnt das total Neue, sondern Geschichte sedimentiert sich in den Seelen - da bin ich ganz sicher - und natürlich bis zu einem gewissen Grade im Unterbewusstsein, in den Hirnen, oder wird weitergereicht von Generation zu Generation - nicht als Bild oder als Erläuterung, als Erklärung, sondern in Verhaltensweisen, die sich forterben. Und insofern glaube ich schon, dass in Deutschland - im alten Westdeutschland - weitaus weniger als in der DDR zum Beispiel sich ein Untertanengeist, den wir seit Friedrich II ja kennen, fortgesetzt hat - nicht in diesem krassen Maße, aber latent. Es war immer vorhanden, und darauf konnten natürlich die neuen Herren ganz gut bauen.

    DLF: Gerade gegenwärtig, Herr Kunert, wird ja mehr und mehr geklagt, die innere Einheit vollziehe sich nicht so wie die äußere. Man spricht davon, dass sich Ostdeutsche und Westdeutsche eigentlich ferner sind, als das noch vor neun oder zehn Jahren der Fall war. Was ist eigentlich ‚innere Einheit'. Ist innere Einheit für Sie irgendetwas Konkretes, etwas ganz konkret Erfahrbares, oder ist das sozusagen ein Mythos?

    Kunert: Also, geht man ml von Italien aus, wo ja schon lange eine staatliche Einheit herrscht, und trotzdem sind die Unterschiede zwischen Nord- und Süditalien derart krass, wie nicht zwischen den alten und den neuen Ländern. Es ist viel krasser. Oder Vereinigte Staaten: Der Norden und der Süden unterscheiden sich doch maßlos. Wenn Sie in den Süden gehen, wenn Sie in Texas sind oder in Lousiana oder irgend-wo im Süden: Man hängt immer noch an der alten Flagge und am Südstaatengefühl. Man mag die Yankees aus dem Norden nicht. Der Nord/Südstaaten-Krieg ist immer-hin ist ja schon eine ganze Weile her - 1865 war das. Und trotzdem ist diese Wunde noch nicht ganz verheilt. Sie stoßen immer noch auf Gegensätze, die - zwar nicht krass - aber doch dann ein bißchen ausgetragen werden. Und das finden Sie überall in Europa. Sie finden das in Frankreich: Wenn Sie in die Bretagne kommen und die Leute hören, Sie kommen aus Deutschland, dann sind sie ganz froh, dass Sie nicht aus Paris sind. Oder in Wales, wo man die Engländer hasst. Das ist überall. Diese regionalen Differenzen sind überall in Europa zu finden.

    DLF: Und Sie finden die auch nicht bedrohlich?

    Kunert: Nein. Solange sie nicht bedrohlich werden, sind sie natürlich duldbar. Und ich glaube auch nicht, dass sie in Deutschland bedrohlich werden. Ich meine auch, man kann das nicht erzwingen. Es ist ja immer die Rede von den ‚Mauern in den Köpfen'. Diese sogenannte ‚Mauer in den Köpfen' wird sich reduzieren, ob sie ganz verschwinden wird in den nächsten 30 - 40 Jahren, das weiß ich nicht. Es wird vielleicht immer ein Abstand bleiben. Wir müssen aber auch vielleicht bedenken, dass nach der Reichseinheit 1871 es immer die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gab. Ostelbien - das war etwas ganz anderes als das industrialisierte und aufgeklärtere Westdeutschland. Das war immer zurückgeblieben - bis auf Sachsen natürlich -, aber es war immer die zurückgebliebene östliche Dimension Deutschlands. So war es immer. Und dieses Deutschland, das ja sehr viele Grenzen hatte mit sehr vielen Völkern, blickte dann immer auf diese unterschiedlichen Völkerschaften und Nationen, mit denen es zu tun hatte. Und natürlich hatte man auch im alten Ostdeutschland mehr mit Polen zu tun - da war die Grenze - Schlesien, Mark Brandenburg, Pommern, als - sagen wir mal - im Saarland, wo man mit den Franzosen fast jeden Tag Berührung hatte. Dies alles kann man nicht einfach per Ukas, oder indem man die Europaflagge aufzieht, beseitigen.

    DLF: Es hat Sie also nicht überrascht, dass dieser anfängliche Euphorie - wir alle erinnern ja uns noch an die Bilder von vor zehn Jahren, von vor neun Jahren - dass diese Euphorie, die damals herrschte, bei manchen umgeschlagen ist in - ja, man kann es wirklich nur als tiefe Abneigung bezeichnen. Das scheint Ihnen nichts geschichtlich Neues?

    Kunert: Durch meine Erfahrungen nach 45.

    DLF: Auch solche Vorurteile, wie sie ja im Westen neuerdings auch sehr laut geäußert werden, das Ostdeutsche als lammerjand gelten, als arbeitsscheu, zum Teil ist es ein Vorwurf, dass die Arbeitsproduktivität nicht steigt . . .

    Kunert: . . . das sind dann die ‚Besserwessis', die alles besser wissen, und die natürlich den armen Ostler über den Tisch gezogen und ihm das Geld aus der Tasche geholt haben. Was ja auch alles stimmen mag, bis zu einem gewissen Grade. Also, die Treuhand hat ja da keine sehr gute Rolle gespielt. Aber ich denke dann auch immer daran: Im 19. Jahrhundert sind hunderttausende, gar Millionen Menschen aus Europa weggegangen nach Amerika. Wenn ich denke, wie die Leute aus Galizien, aus Russland, die Juden, die nach New York kamen: Denen stand das Maul sperrangelweit offen. Sie kamen doch in eine völlig fremde, ihnen total unbekannte Welt. Sie mussten sich im Eilzugstempo akklimatisieren. Und die Ex-DDR ist ja natürlich im Eilzugstempo wie mit einer Zeitmaschine in eine ganz andere Epoche geraten, in ein weitaus moderneres, hoch industrialisiertes Staatswesen, denn - Sie wissen es ja - die DDR hatte ja einen ganz anderen Lebensrhythmus, einen ganz anderen Arbeitsrhythmus, sie war ja in vieler Hinsicht ‚gestrig', ein bißchen zurückgeblieben. Und das ist den Menschen sehr schwergefallen und fällt vielen Menschen schwer, wobei wir auch nicht überschätzen sollen die Anzahl derjenigen, die sozusagen auf ihre DDR-Identität rekurrieren. Es gibt die schweigen-de Mehrheit, die eigentlich sehr einverstanden ist mit dem, was geschehen ist. Es ist genau so wie mit den Jugendlichen oder den jungen Leuten: Es stehen immer die Skinheads im Vordergrund mit ihren Springerstiefeln und Baseballschlägern. Es ist eine Minorität, die natürlich medienwirksam agiert. Aber der größte Teil der Jugendlichen ist eigentlich - wie ich glaube - wenn nicht hundertprozentig zufrieden, aber doch ganz einverstanden mit dem Leben, das sie jetzt leben. Vorher waren sie reglementiert, und sie konnten sich ja überhaupt in dem kleinen Käfig, in dem sie saßen, nicht bewegen.

    DLF: Sie haben eben das Stichwort ‚Medien' gegeben, und wenn Sie von den Menschen im 19. Jahrhundert sprechen, dann unterscheidet sie ja von denen, die heute in unvorhergesehene Situationen geworfen worden sind, dass ihnen keine Informationen zur Verfügung standen. Die wußten ja tatsächlich nicht, was auf sie zu- kam, was für Westler heute manchmal ein bißchen schwer vorstellbar ist - denn viele Menschen in der DDR haben ja West-Fernsehen gesehen -, warum eigentlich so wenig bekannt war oder vielleicht auch verstanden worden ist über das, was die Bundesrepublik ausmacht. Was sagt das nach Ihrer Einschätzung eigentlich über die Medien aus? Wie haben die Medien auch diesen Prozeß der Einheit begleitet und möglicherweise die West-Medien vorher schon wahrheitsgemäß oder weniger wahr-heitsgemäß über die Zustände im Westen berichtet?

    Kunert: Lassen Sie mich noch etwas davorschalten. Die Fehlinformation kam natürlich nicht allein durch Medien, durch das Mißverstehen des Fernsehens überhaupt, denn Fernsehen ist immer das Selektive, Sie erfahren die Welt natürlich immer nur punktuell, ausschnittsweise und auch manipuliert. Aber alleine schon der Besucherstrom aus dem Westen. Also, Tante Emma kam aus Düsseldorf, und wenn es ihr auch vielleicht nicht ganz so gut ging: Einerseits fühlte sie sich überlegen der Nichte und dem Neffen gegenüber. Sie kam ja aus dem Westen, sie brachte zwei große Einkaufstaschen mit zu den armen Eingeborenen, und sie hat ihre eigene Situation natürlich auch geschönt, ganz klar. Sie fühlte sich überlegen und hat dann auch ein bißchen geprotzt und geprahlt. Das heißt also, selbst durch diese persönli-chen Beziehungen hatten DDR-Bürger mit West-Verwandten kein hundertprozen-tiges Bild. Das gab es gar nicht. Und dann war es natürlich so: Die Leute haben mit dem Kopf im Westen gelebt, mit dem Körper in der DDR. Was haben sie gesehen? Sie haben von den kritischen Sendungen eigentlich wenig gesehen, und dann unter dem Aspekt: ‚Was dürfen die da drüben alles sagen, welche Freiheit, ganz toll, was die sich leisten können'. Aber ansonsten haben sie natürlich gesehen - abgesehen von der Werbung - in der Hauptsache den Schrott, der über den Bildschirm kommt. Und dadurch ist natürlich ein völlig falsches Bild entstanden, ganz klar. Und dieses falsche Bild in einem noch krasseren Maße vermittelt ja die Industriezivilisation an die Dritte Welt. Die Leute sitzen im Dschungel, haben zwar nichts zu essen, aber dafür einen Fernseher und sehen nun - selbst in den miesesten Filmen noch -: Was haben die Leute da alles, das ist ja ungeheuerlich. Ich muss Ihnen ganz kurz erzählen: Ich war mal in Mexiko - die Geschichte ist zu lang - aber wir waren in Merida, Yukatan, wo ich immer hinwollte, haben uns ein Taxi gemietet mit einem Führer, und der fuhr uns nicht nur zu Ruinen, sondern auch in ein Dorf - im Dschungel. Ein großer Bau, Riesenscheune, da hingen die Hängematten - an den Seiten hochgezogen -. Da schliefen 30 bis 40 Leute in diesen Hängematten im leeren Raum, aber in der Ecke stand der Fernseher und lief. Und es liefen natürlich die amerikanischen Programme. Das heißt also: Dieser Trieb von Mexiko in die Vereinigten Staaten ist nicht nur einer aus der Arbeitslosigkeit in die Schwarzarbeit, sondern auch einer der Sehnsucht, dieses hochstandalisierte Leben mitleben zu können. Zwar nicht ganz so krass, aber ähnlich ging es zwischen Ost und West auch zu.

    DLF: Wir haben, Herr Kunert, ja gerade einige Landtagswahlen in den neuen Ländern hinter uns. Die Wahlbeteiligung war sehr gering, noch geringer als im Westen der Republik. Die PDS erfreute sich steigender Beliebtheit, Sozialdemo-kraten haben sich im Keller wiedergefunden. Nun machen sich schon länger gehegte Befürchtungen Luft: Die ehemaligen Bürger der DDR machten sich nicht besonders viel aus der Demokratie, schlimmer noch: Die Haltung vieler Menschen könne die Demokratie gefährden. Teilen Sie solche Befürchtungen? Ist da überhaupt irgend-etwas dran?

    Kunert: Nein, das glaube ich nicht. Ich denke schon, dass die PDS-Wähler in der Hauptsache Protestwähler sind und dann die älteren, eben die sich rückwenden, die DDR - diese Vergangenheit - für sich geschönt haben. Ich denke aber nicht, dass die PDS irgendeine Gefahr für die Demokratie in Deutschland bedeutet, denn hier zum Beispiel im alten Westen, wo auch die Mehrheit der Bevölkerung sitzt, spielt sie ja überhaupt keine Rolle. Also, das ist der einzige Punkt, bei dem ich eigentlich nicht ängstlich bin.

    DLF: Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat mal - ich glaube, es war zum fünften Jahrestag der Vereinigung - gesagt, wir müssen uns gegenseitig unsere Geschichten erzählen. Das soll mehr Einsicht sozusagen in die unterschied-lichen Lebensverhältnisse bringen, in denen Menschen in Ostdeutschland und Westdeutschland groß geworden sind. Das appelliert natürlich auch ein wenig an die Literatur. Welche Rolle spielt Literatur oder spielte Literatur bisher in diesem Prozeß?

    Kunert: Ich glaube, die Literatur spielt in dieser Hinsicht kaum eine Rolle, weil Literatur sowieso für den Wandel einer Gesellschaft nur eine ganz geringe Rolle spielt. Die Literatur bestätigt vielleicht den Wandel im Nachhinein, aber sie bewirkt ihn überhaupt nicht. Ich glaube nicht, dass sie eine Rolle spielt. Die Realität, die Wirklichkeit mit all ihren Komplikationen ist immer stärker als die Literatur. Ich kann das wunderbarste und herrlichste Buch lesen, das menschenfreundlichste, und trotzdem gehe ich dann hin und bringe meinen Nachbarn um. Wir haben es ja in Deutschland auch erlebt, und die Literatur bewirkt im Grunde nichts. Sie ist eigentlich das Alibi und der Vorhang vor unseren Untaten und vor unserem Unverständnis und Mißverstehen unserer Mitmenschen. Wir lesen und fühlen uns dadurch etwas besser, weil wir dann mit den Figuren mitleben und vielleicht dann auch sentimental angerührt sind. Aber in dem Moment, wo es hart wird im Umgang und es um unsere Existenz geht, dann ist die Literatur passee.

    DLF: Was bedeutet das für Künstler und Intellektuelle in der heutigen Gesellschaft? Sind sie immer noch - wie vielleicht auch Sie früher einmal gemeint haben - Träger eines Widerstandes gegen das, was Sie selbst einmal als ‚alles nivellierende Zivilisationsweise' bezeichnet haben? Sind sie eine aussterbende Spezies, weil man befürchten muss, dass bald vielleicht kaum noch gelesen wird? Oder sind sie eine Kraft, die das Bestehende feiert, legitimiert?

    Kunert: Nein, also da könnte man jetzt eine halbe Stunde drüber reden. Die Zeit haben wir leider nicht. Aussterbende Spezies - bis zu einem gewissen Grade, also Vorangehen als Dinosaurier - die Lyriker sowieso. Aber ich meine schon, dass - für mich kann ich das jedenfalls sagen, wie andere Schriftsteller denken, weiß ich nicht - man ja nicht schreibt, um Menschen zu erziehen. Das ist längst vorbei, die Aufklärung ist ja seit Horkan und Adorno und der Dialektik der Aufklärung perdu, das ist auch alles ja gewesen. Ein Autor - und insbesondere ein Lyriker - schreibt wegen seiner Obsession. Er ist ein Zwangsneurotiker, der schreiben muss. Ob das nun von 500 Leuten gelesen wird oder von 10.000, ist nicht sein Interesse beim Schreiben. Und ich glaube sogar, dass Autoren, die meinen, sie hätten einen politischen Auftrag oder einen gesellschaftlichen und müßten die Welt und die Menschheit verbessern, dies eigentlich nur als ein Alibi benutzen, dass sie vielleicht selber gar nicht so recht erkennen, um ihrem Zwang nachzugeben. Die Literatur, die ja vor langer Zeit eine wesentliche Rolle gespielt hat, als es noch keine anderen Medien gab, steht diesen sogenannten Massenmedien, in der Hauptsache dem Fernsehen oder jetzt diesem ganzen Internet-Kram, völlig hilflos gegenüber. Und es bleibt gar nichts anderes übrig als das zu tun, was sie immer gemacht hat: Sie kann nur das Maximale sprachlich erreichen, indem ihre Verfasser sich ihr hingeben. Was anderes kann gar nicht sein. Und es wird natürlich immer Menschen geben, die lesen, aber ich fürchte, das wird elitär werden. Eines Tages ist zu lesen - elitär -, es wird dann eine kleine Gruppe sein, und für die . . .

    DLF: . . .Sie meinen, weil es die einzigen sind, die noch lesen können . . .

    Kunert: . . . die noch lesen können. Ich lese das ja in Zeitungen und schneide mir das auch aus: Jeder vierte Deutsche ist ja schon ein potentieller Analphabet. Das wird natürlich immer schlimmer werden. Und da die Sprache insbesondere der jungen Generation auch geprägt wird vom Fernsehen - das ist ja eine halb Barbarische - und man untereinander sich natürlich auch nur noch durch eine völlig reduzierte Wortwahl verständigt, glaube ich, dass eine wirklich anspruchsvolle Literatur in weiterer Zukunft keine Chancen mehr hat. In einem Land, wo es eine Stiftung ‚Lesen' gibt, also sozusagen der Pflegefall schon aktualisiert ist, ist es natürlich um die Literatur schlecht bestellt.