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Kunert

Harald Kleinschmid |
    DLF: In seinen Werken gibt sich Günter Kunert als erklärter Langschläfer und Spätaufsteher zu erkennen. Gehen Sie, Herr Kunert, eigentlich gern zur Wahl?

    Kunert: Ich gehe insofern gern zur Wahl, weil in Schleswig Holstein zugleich eine Abstimmung gegen die sogenannte Rechtschreibereform stattfindet, gegen die ich mich schon mehrfach erklärt habe. Und da ja diese Abstimmung mit der politischen Wahl zusammenfällt, werde ich natürlich bei Öffnung des Wahllokals im Haus des Bürgermeisters von Kaisborstel früh vor der Tür stehen.

    DLF: Meine Frage hat nicht nur diesen etwas intellektuellen Hintergrund, sie hat auch einen realen politischen Hintergrund. In der DDR war es gewissermaßen Pflicht, möglichst früh und geschlossen zur Wahl zu gehen oder zu dem, was sich Wahl nannte - die offene Stimmabgabe und die Wahlkabine in der hintersten Ecke. Sie, Günter Kunert, haben die DDR in der Nachfolge der Biermann-Ausbürgerung 1979 verlassen und leben seither in der ländlichen Idylle des schleswig-holsteinischen Kaisborstel. Welche Erinnerungen haben Sie denn an diese sogenannten gesellschaftlichen Höhepunkte in der DDR?

    Kunert: Ganz geringe. Ich erinnere mich noch, daß meine Frau dann sagte: "Mensch, da ist ja diese Volksabstimmung, da müssen wir ja noch hin", und wir sind dann meist so gegen 5, 6 Uhr nachmittags noch hingegangen, um unserer Pflicht Genüge zu tun. Also, wir sind nie in die Situation gekommen, daß man uns als erste mit einem Blumenstrauß begrüßt hat, und es war allen Leuten klar, wie uns auch: Es war ein reines Affentheater. Und selbst, wenn keiner hingegangen wäre: Es wären immer 99,9 Prozent gewesen.

    DLF: Unter dem Druck der Diktatur haben - Sie sagen es - fast 99 Prozent der DDR-Bürger 'den Zettel gefaltet' - wie es damals hieß. Heute schätzen gerade viele Ostdeutsche den Wert der parlamentarischen Demokratie nicht besonders hoch. Haben Sie eine Erklärung dafür?

    Kunert: Eigentlich nicht, es sei denn, es handele sich um die Nachwende-Enttäuschung noch vieler Ex-DDR-Bürger. Das heißt also: Man hat gedacht nach der Wende bzw. nach der Vereinigung, man bekäme das Paradies des alten Westdeutschland kostenlos geschenkt, sofort kämen die 'blühenden Landschaften', die ja auch wirklich versprochen worden sind - und dann wurde eigentlich nichts so rechtes daraus, bedingt durch den Zusammenbruch des ganzen Ostblocks auch, und durch vielerlei anderer Dinge auch, über die man ja stundenlang diskutieren kann. Aber ich muß Ihnen sagen: Ich halte es da mit dem alten Churchill, der ja gesagt hat: 'Die parlamentarische Demokratie ist schlechteste System der Welt, aber ich kenne kein besseres'. Und ich meine schon, daß selbst mit dieser Stimmabgabe vielleicht eine Chance besteht, doch irgend etwas ein bißchen zu bewegen.

    DLF: 'Der Osten wird nicht rot, er bräunt rapide' - konnte man dieser Tage lesen. Beunruhigt Sie ein solcher Satz?

    Kunert: Es ist schon wirklich eine bedenkliche Kiste, muß man sagen. Aber es ist auch so: Wir haben es mit Menschen zu tun, die von einer Diktatur ja - mit einer kurzen Zwischenphase - in eine andere gegangen sind. Das heißt also: Es sind im Grunde außen gesteuerte Menschen, die nie gelernt haben, Eigeninitiative im politischen Bereich zu entwickeln, weil - das war immer eine gefährliche und bedrohliche Angelegenheit, wenn man nicht mitmachte. Also, man machte immer mit - in der Mehrheit -, um Repressalien zu entgehen, und dann gewöhnt man sich daran. Und wenn dann Versprechungen kommen: 'Wir sind bereit, Euch das zu geben, was Ihr eigentlich wollt' und 'Wählt uns nur' und 'Wenn wir dann noch mal den richtigen Führer hätten, würde alles besser' - das sind Formeln und Formulierungen, die eher im Osten ankommen als in der alten Bundesrepublik, wo die Leute weniger anfällig sind durch diese 40 Jahre Bonner Republik, die natürlich ihre Macken, Fehler uns sonst was gehabt hat, aber in der die Leute auch ein bißchen politisch was gelernt haben. Das glaube ich schon.

    DLF: Wenn man Sie so hört, Herr Kunert, dann wird ja ganz deutlich, daß auch nach Ihrer Ansicht das viel beschworene 'Zusammenwachsen' der Deutschen aus Ost und West noch immer eine Illusion, eine Schimäre, ist.

    Kunert: Das sehe ich auch so. Also, es ist nicht ganz so kraß, wie in Nord- und Süditalien. Die Sprache ist nicht so trennend wie dort. Es sind aber psychische Ähnlichkeiten doch spürbar. Also einerseits ein Unterlegenheitsgefühl der Leute in Mezzogiorno gegenüber dem Norden, und im Norden - bei den Mailändern oder Turinern - ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den Süditalienern, die ja da schlechter behandelt werden als die Türken. Das ist vorhanden und wird wahrscheinlich noch lange Zeit vorhanden bleiben. Die einzige Chance ist eben, daß eine heranwachsende Jugend, so sie nicht Rattenfängern anheimfällt - wie gesagt, es steht ja drohend im Hintergrund -, sich doch zusammenlebt, leichter zusammenleben kann, weil ihre Interessen, Vorlieben, Sehnsüchte, Vorstellungen in Ost wie West ähnlicher sind. Das heißt also: Mit der alten Generation im Osten da können wir nicht mehr viel Staat machen.

    DLF: Warum nicht, woran liegt das?

    Kunert: Es liegt daran, daß, wenn man 40 Jahre diszipliniert worden ist, dann legt man die Hände an die Hosennaht, bevor noch einer 'Stillgestanden' gerufen hat. - wenig Selbständigkeit und wenig Selbstvertrauen und immer Erwartung, daß von außen, von oben, irgend etwas reguliert, geregelt und gespendet wird. Das war - glaube ich - die große Illusion der Ostdeutschen, daß sie dachten, jetzt bekommen sie das alles auf einem silbernen Tablett geliefert, was die Leute sich hier mühseligst errackert haben - errackert haben, muß man sagen.

    DLF: Fehler der Westdeutschen im Einigungsprozeß - sehen Sie die auch?

    Kunert: Ja sicher, weil natürlich ein großes Unverständnis da war. Aber das war beidseitig, denn vor der Wende, wenn Ost- und Westdeutsche zusammenkamen - also entweder besuchsweise in der DDR Tante Emma und Onkel Karl erschienen - dann war das ja alles 'Friede, Freude, Eierkuchen'. Man hatte sich jahrelang nicht gesehen oder monatelang nicht, und es war ja sehr vieles ausgeklammert. Insbesondere das Politische wurde kaum besprochen. Das heißt also, die Ostdeutschen jammerten und klagten ein bißchen über Ulbricht oder Honecker, und die Westdeutschen erzählten was von Mallorca; oder man traf sich in Bulgarien oder Rumänien - aber die Dinge wurden natürlich nie gründlich beredet, was ja auch gar nicht geht. Wenn man aus ganz verschiedenen Gesellschaften kommt, dann trifft man sich verbal und kommunikativ auf dem kleinsten Nenner, also in diesem Fall auf dem familiären oder freundschaftlichen. Und erst danach, als die ostdeutsche Bevölkerung wie mit einer Zeitmaschine in eine andere Epoche verfrachtet wurde - würde ich mal sagen -, da zeigte es sich, daß es sich hier tatsächlich um Menschen einer ganz anderen Sozialisation handelt.

    DLF: In den neuen Bundesländern, so ergeben Umfragen, fühlen sich die meisten zuerst als Ostdeutsche und erst dann als Deutsche. Klingt ein bißchen schizophren, ist aber so.

    Kunert: Ja, das ist etwas merkwürdig, und vor allen Dingen: Nehmen Sie zum Beispiel mal Polen oder Ungarn oder Tschechen, denen es ja im Gegensatz zu den Ostdeutschen weitaus schlechter geht - wir alimentieren ja unsere Brüder und Schwestern immer noch kräftig -, für die ist das Problem eigentlich gar nicht vorhanden. Das heißt, für die ist jetzt die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft die Normalität, die sie angenommen haben und akzeptieren, ohne Larmoyanz. Wieso geht das eigentlich da, und wieso geht das nicht in der Ex-DDR? Es geht eben nicht, weil die Ostdeutschen eben Deutsche waren, diesen langen Domestikationsprozeß durchlaufen haben, und dann - nach der Vereinigung - die Enttäuschung erlitten haben. Das gab es bei unseren östlichen Nachbarn nicht. Also gut, es gab natürlich auch soziale Abstürze, aber man war sich klar: Das ist halt so. Und wissen Sie, ich muß immer daran denken: Im 19. Jahrhundert und auch bis zum Ersten Weltkrieg - diese Menschenströme, die aus Osteuropa und aus Rußland nach Amerika flossen, die wurden auch in eine völlig fremde Welt versetzt. Wenn einer aus dem Stetl in Galizien in New York ankam - ich meine, das war doch weitaus frappierender und bedrückender und bedrängender, als wenn jetzt jemand in Schkeuditz plötzlich die bürgerliche Gesellschaft übergestülpt bekommt. Die Leute haben sich auch reingefunden und mußten es tun, weil man im Leben nichts geschenkt bekommt.

    DLF: Sie haben die Situation zwischen Ost und West in Deutschland, Herr Kunert, nicht sehr optimistisch beschrieben. Könnten denn die Intellektuellen, die Schriftsteller, in Sachen 'geistige Einheit der Deutschen' aktiv werden? Würde das Sinn machen?

    Kunert: Ach, wissen Sie, die Wirkung von Literatur ist ja sowieso überschätzt. Ich glaube kaum, daß ein gutwillig geschriebener Roman - 'Der ungeteilte Himmel' vielleicht genannt - über die Liebe zwischen einem Leipziger und einem Kieler wesentliches bewirken würde. Es gibt natürlich Autoren - wie wir wissen -, denen die ganze Vereinigung nicht so recht gepaßt hat, und die davon auch immer noch reden - auch eine unumkehrbare Angelegenheit, und bis zu einem gewissen Grade - sage ich mal - ihrem ostdeutschen Publikum zum Munde reden, statt eher doch darüber aufzuklären, wie die Situation ist, und daß sie wahrscheinlich gar nicht anders hätte sein können als sie wurde. Die Möglichkeiten nach der Vereinigung waren wahrscheinlich relativ gering. Ich muß dem BND den Vorwurf machen, daß er völlig uninformiert war und seine Uninformiertheit an die Bundesregierung weitergegeben hat, und man in Bonn glaubte, was Honecker immer behauptet hat: 'Wir stehen an 9. Stelle der Industrienationen' - das war alles Schwindel, stimmte ja alles nicht. Aber wie gesagt: Der BND hat's geglaubt, Kohl hat's geglaubt - und hinterher kam dann die Einsicht: Das stimmte ja alles nicht. Das wäre doch mal eine gründlich Untersuchung wert, und natürlich damit auch eine Aufhellung und Aufklärung der damaligen Situation, die natürlich - ich glaube - auch für die Bundesregierung etwas enttäuschend war, als man sah: Ach, so toll ist das da gar nicht, was wir uns da jetzt in die Tasche gesteckt haben.

    DLF: Wollen die Autoren diese Aufklärung nicht leisten oder können sie sie nicht leisten?

    Kunert: Sie können das gar nicht. Ich meine, das ist eine Arbeit von Wirtschaftsfachleuten und Soziologen. Die wiederum haben natürlich nicht die Massenwirksamkeit und Breitenwirkung.

    DLF: Es gibt natürlich nun auf der anderen Seite Leute, die sagen: 'Ach, laßt die ruhig noch eine Weile getrennt nebeneinander herleben, die beiden deutschen Ethrien.

    Kunert: Das höre ich insbesondere in der alten Bundesrepublik: 'Baut die Mauer, aber 2 m höher - und es wird dann wieder für uns etwas billiger'. Das ist ja solch ein Knackpunkt in der alten Bundesrepublik, daß die Leute sich hier sagen: "Mein Gott, wir pumpen die Milliarden da rein und werden dann nicht mal mit dem Arsch angesehen".

    DLF: Wo steht denn Günter Kunert in dieser Auseinandersetzung?

    Kunert: Also wissen Sie, ich bin der außenstehende Beobachter in dieser Angelegenheit, weil ich vielleicht weniger emotional engagiert bin dabei.

    DLF: Ich frage mal noch ein bißchen nach: Sie, Herr Kunert, sind ja eher ein Gegner - ich sage mal - intellektueller Vereinigungsbestrebungen. Sie sind aus der Akademie der Künste (West) ausgetreten, als sie sich mit der östlichen vereinigte. Sie fanden barsche Worte, als der PEN (West) beschloß, sich mit dem Ost-PEN zu vereinigen - diese Ehe wird übrigens Ende Oktober vollzogen werden. Haben Sie kein Vertrauen in die Lernfähigkeit der Menschen?

    Kunert: Es geht und ging mir ja nicht darum, daß hier Autoren unterschiedlicher Regionen oder Gesellschaften zusammenkommen, sondern mir ging es darum - sagen wir mal -, daß kriminelle oder moralisch höchst dubiose Figuren in doch ehrenwerte Vereinigungen aufgenommen wurden und werden sollen. Ich habe nicht das geringste einzuwenden gegen eine Vereinigung mit seriösen Schriftstellern der EX-DDR, nur: Ich habe keine Lust, mich mit Stasi-Spitzeln an einen Tisch zu setzen. Es gibt jemand - 'IM Hans' -, dieser Mann hat hier noch 1989 gesessen und über uns berichtet, als die DDR schon kaum noch existierte. Also, ich meine: Warum muß dieser Mann im PEN sein? Ich verstehe das nicht. Der PEN hat ja einen gewissen moralischen Anspruch, und er setzt sich ja auch für verfolgte Schriftsteller ein. Warum soll ich in einem Verein, der sich für verfolgte Schriftsteller einsetzt, jemand haben, der Schriftsteller verfolgt hat? Also, das ist doch nun wirklich eine ganz obskure Angelegenheit, und wenn der PEN das macht, dann ist das seine Angelegenheit, aber ich muß dann nicht dabei sein.

    DLF: Ich stelle einmal die etwas scheinbar abwegige Frage: Irritiert es Sie, wenn ich Ihnen sage, daß die beiden deutschen Angler-Verbände ähnlich unnachgiebig handeln?

    Kunert: Die anderen Verbände sind mir relativ gleichgültig, und wahrscheinlich ist das auch mit Motorsport-Clubs und Kaninchenzüchter-Vereinen nicht anders, weil eben das Kaninchen dort dominiert. Aber im PEN dominiert etwas anderes, es ist ja kein Hobbyverein oder Fachverband, sondern etwas ganz anderes. Der PEN ist ja ein Verein auch mit einem moralischen Anspruch, was ja der Kaninchenzüchter-Verein nicht ist. Und wenn ich einen moralischen Anspruch vertrete, dann muß ich auf bestimmte Dinge Rücksicht nehmen. Und wenn ich als Akademie auch meine, ich hätte eine Stimme in der Öffentlichkeit, die auch politisch-moralisch zu werten ist, muß ich mich danach verhalten. Dann kann ich nicht mein Renommee dadurch ruinieren, indem ich Leute an meinen Busen ziehe, die also trostlose Gestalten sind. Das ist der Unterschied.

    DLF: Heilt die Zeit Wunden?

    Kunert: Ach, das ist gar keine Wunde, nein, um Gottes willen. Ich bin ja froh, daß ich da raus bin und mit diesen Leuten nichts mehr zu tun habe. Wissen Sie, es ist ja so: Diese Vereinigungsfreunde sind ja zum Teil ahnungslose Leute, was man ihnen ja gar nicht übelnehmen kann. Sie saßen 40 Jahre lang in dieser alten Bundesrepublik, fuhren mal nach Ostberlin, sprachen dann mal da mit einem Intellektuellen oder Schriftsteller, wurden da begrüßt, hofiert - war ja alles wunderbar, und sie haben gar keine Vorstellung, was eigentlich da hinter den Kulissen vorgegangen ist.

    DLF: Zurück zur Wahl und zum Wahlkampf. Künstler und Intellektuelle haben sich an die eine oder andere Person, an die eine oder andere Partei, an die eine oder andere Richtung im Wahlkampf gebunden und sie unterstützt. Günter Kunert nicht. Warum nicht?

    Kunert: Nein, ich habe auch einen Artikel über den möglichen Kulturminister geschrieben, das heißt - dagegen, weil ich das für eine Schwachsinnsidee halte. Nun gut, die Kultusminister der Länder sind ohnehin inkompetente Leute, das heißt, die nie dargelegt haben, woher sie eigentlich ihre Kompetenz beziehen. Nun soll jetzt ein gesamtdeutscher Kulturminister . . . - also, wenn ich schon Kulturminister höre, dann sträuben sich mir die Nackenhaare. Wieso soll dieser Mann, der ja ein eigenes Ministerium bekommen wird, natürlich viele Gelder zu verteilen hat, dadurch natürlich eine riesige Klientel heranziehen wird, die ihm die Füße küssen, wenn sie dafür Geld kriegen, warum dieser Kulturminister ein 'must' ist, eine unbedingte Notwendigkeit in einer Zeit des knappen Geldes und noch dazu in einer Zeit, da Kultur überhaupt in allen Bundesländern und Kommunen ganz klein geschrieben wird: Der kulturelle Zustand Deutschlands wird sich dadurch überhaupt nicht ändern. Diesen Kulturminister könnten wir nun wirklich einsparen.

    DLF: Wie beurteilen Sie denn den kulturellen Zustand Deutschlands?

    Kunert: Der kulturelle Zustand ist nicht so besonders aufregend. Sie wissen: Das Theater ist ja ziemlich ruiniert durch das Regie-Theater. Es wird immer teurer, die Theater zu erhalten. Die Subventionen werden immer höher - bzw. Theater werden geschlossen. Die Literatur wird auch immer langweiliger, und der Film glänzt auch nicht gerade durch hervorragende Leistungen. Zur Musik kann ich nichts sagen, weil ich völlig unmusikalisch bin. Aber es ist so ein allgemeiner Zustand von Müdigkeit und Erschöpfung spürbar.

    DLF: Noch mal nachgefragt: Wenn sich Künstler der einen oder anderen Richtung mehr oder weniger an einen Politiker binden: Beobachten Sie das mit Mißtrauen?

    Kunert: Ich beobachte es nicht mit Mißtrauen, sondern mit Bedauern, weil ich weiß, daß jede Kongruenz - sagen wir mal - mit der Macht oder mit Mächtigen sich negativ auf das Werk, das man schafft, auswirken muß, zwangsläufig. Also - 'politisch' Lied - garstig Lied', hat der Alte schon mal recht gehabt -, ich bin nicht dagegen, daß ein Schriftsteller oder Intellektueller apolitisch sein soll. Er soll sich einmischen. Ich mache es ja auch, schreibe ja auch - wenn mir danach ist - politische Artikel für oder gegen irgend etwas, meist gegen irgend etwas natürlich. Aber ich fürchte, daß eine Übereinstimmung mit bestimmten politischen Richtlinien und Bewegungen sich negativ im eigenen Schreiben bemerkbar machen muß. Ein Schriftsteller sollte wirklich geistig unabhängig sein - so weit wie möglich.

    DLF: Sie, Herr Kunert, sind gebürtiger Berliner, haben Jahrzehnte lang in Berlin gelebt. Nun wird die Stadt Hauptstadt der Berliner Republik. Aus der norddeutschen Idylle heraus beobachtet: Wird der Regierungsumzug Richtung Osten die Republik verändern?

    Kunert: Ich glaube schon, ja, ganz sicher. Ich meine: Sie kennen Bonn, eine Idylle, ein kleines Städtchen, wunderbar. Ich habe begriffen, daß viele Leute nicht umziehen wollen nach Berlin, weil: Das war ja so gemütlich. Man ging abends seinen Schoppen Wein trinken, zu Fuß um die nächste Ecke. Es war ja alles 'ganz heile Welt' fast, möchte ich sagen. Und jetzt Berlin: 80 km bis Polen, diese Nähe zum Osten, diese Stadt, in der von der Mafia bis zu Großspekulanten ihr Wesen oder Unwesen treiben, in der es ja schon eine Art multikulturelle Gesellschaft gibt. Das wird sich selbstverständlich auswirken auf diese Regierung und ihre Mitglieder - auch wenn die durch den Tunnel gehen, das wird ihnen nicht erspart bleiben.

    DLF: Ist die heutige Wahl, Herr Kunert, eine Schicksalswahl?

    Kunert: Eine große Frage. Ich weiß es nicht, man kann es nicht beantworten. Aber es geht ja auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hinaus, und ich denke, daß dann danach weiter gewurstelt wird wie bisher.