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Kunst oder antisemitische Hetze?

Selten hat ein Schauspiel in der deutschen Nachkriegsgeschichte solch ein Furore gemacht wie "Der Müll, die Stadt und der Tod" - das Stück, mit dem Rainer Werner Fassbinder sich gewissermaßen von Frankfurt verabschiedete. Das war Mitte der 1970er Jahre, als die Hausräumungen und Hauszerstörungen im Frankfurter Westend noch allen in der Stadt in frischer Erinnerung waren und Hausbesetzer reimten: "Spekulanten, Magistrat - Gangstersyndikat".

Von Rolf Wiggershaus | 31.10.2005
    Zur Aufführung kam Fassbinders letztes Theaterstück allerdings erst Jahre nach dem Tod des spektakulären Film- und Theaterregisseurs, -autors und -darstellers. Weil er verfügt hatte, dass eine Uraufführung des auch von ihm für brisant gehaltenen Stückes nur in Frankfurt am Main, Paris oder New York stattfinden dürfe, fühlten sich immer wieder Frankfurter Intendanten berufen, das, wie sie meinten, in der Stadt rumorende Stück, gewissermaßen eine Leiche im Keller, ans Licht zu bringen. So auch im Jahre 1985, als es schließlich zu einer Uraufführung besonderer Art kam.

    "Ich kann nicht so unbefangen sein nach dem, was ich gesehen hab, was mir geschehen ist, was meinen Angehörigen geschehen ist, und ich bin 45 dennoch hier im Land geblieben, hab aber nicht geglaubt, dass ich 85 hier stehen muß aus solch einem Anlaß. [...] - Da kommt genauso ne Figur drin vor. Was ist dann das? - Das ist ein Riesenunterschied. - Das ist kein Unterschied. - ...aber was mit der Stadt in Frankfurt passiert ist, mit den Banken, gerade im Westend zum Beispiel [...] Also allein diese Diskussion, die es jetzt fordert, ist das Stück wert, find ich."

    Abend des 31. Oktober 1985. Eine Menschenmenge vor dem Kammerspiel der Städtischen Bühnen Frankfurt. Nach fast zehn Jahren Streit, nach mehreren gescheiterten Aufführungsversuchen, nach einer immer schärfer gewordenen Agitation gegen die Premiere sollte an diesem Abend endlich die Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Frankfurt-Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" stattfinden. Doch etwa zwei Dutzend Personen besetzten die Bühne und hielten dem Publikum zweieinhalb Stunden lang ein Transparent mit der Aufschrift "Subventionierter Antisemitismus" entgegen. In einem Flugblatt erhob der jüdische Jugend- und Studentenverband den Vorwurf:

    "Die Freiheit der Kunst wird missbraucht, um Juden zum Sündenbock für soziale Mißstände in Frankfurt zu stempeln."

    Erst die Aufführung des Stückes könne den Stellenwert jener Sätze deutlich machen, die seit langem als Beleg für den Antisemitismus oder zumindest die antisemitische Wirkung des Stückes kursierten - argumentierten die Befürworter, darunter Intendant Günter Rühle. Sobald das Stück im städtischen Theater seine Uraufführung erlebt hätte, würde wüster Judenhass wieder salonfähig sein - waren die Gegner überzeugt.

    "Ich arbeite seit 45, seitdem ich aus Auschwitz raus bin, ganz normal. Ich befasse mich nicht mit Banken und all diesen Dingen. Ich sage Ihnen nur: ein solches Stück aufzuführen, nachdem 40 Jahre vorbei sind, halte ich für eine Ungeheuerlichkeit."

    Es war in der Tat ein monströser Brocken, den der früh verstorbene Fassbinder, genialisches Enfant terrible des Neuen Deutschen Films, Mitte der 1970er Jahre zu Papier gebracht hatte. Im Zusammenspiel von Stadt, Banken und Spekulanten war damals in Frankfurt das so genannte "Cityerweiterungsgebiet Westend" rücksichtslos vom Wohngebiet in ein Hochhaus- und Büroviertel für den tertiären Wirtschaftssektor umgewandelt worden. Dass unter den Spekulanten auch jüdische Deutsche waren, hatte genügt, um antisemitische Ressentiments zu forcieren. Fassbinders Stück enthält den Hass-Monolog einer Nazifigur auf jüdische Spekulanten-Konkurrenten. Er beginnt mit den Worten:

    "Er saugt uns aus, der Jud. Trinkt unser Blut und setzt uns ins Unrecht, weil er Jud ist und wir die Schuld tragen."

    Bevor das Stück einige Tage nach der gesprengten Premiere in einer so genannten "Wiederholungsprobe" vor Theaterkritikern doch noch zur Aufführung gelangte, meinte der damalige Kulturdezernent Hilmar Hoffmann in einem Interview:

    "Wer von der Textanalyse ausgeht, kann sicherlich zu der Meinung kommen, dass dies ein antisemitisches Stück ist. Ich würde dies nicht so pauschal sagen, sondern meinen, dass bestimmte Textpassagen antisemitisch sind. Aber sie werden insofern wieder relativiert, als sie ja eindeutig als Nazis identifizierten Protagonisten in den Mund gelegt werden. [...] Ich war immer gegen eine solche Aufführung, weil ich die subjektive Einschätzung unserer jüdischen Bürger ernst nehmen muss ... Ich muss mir deren Ängste zueigen machen. Nachdem aber alles Zureden des Oberbürgermeisters wie auch von mir nichts genutzt hat und Rühle doch entschlossen war, dieses Stück zu zeigen, haben wir uns andererseits auch entschlossen, dieses nicht zu verbieten, denn Artikel 5 des Grundgesetzes sagt: Eine Zensur findet nicht statt, die Kunst ist frei."

    Fassbinders Stück vermischt das Problem rücksichtsloser und korrupter Stadtumstrukturierungspolitik mit dem Problem des schwierigen Verhältnisses zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen nach Auschwitz. Sein Mix von Moritat und Mysterienspiel, sentimental-fatalistischem Pathos und Obszönität war nur dem einen Thema einigermaßen angemessen, missbrauchte dagegen das andere für eine Provokation.
    Das ist wohl auch ein Grund dafür, dass das Interesse an dem Stück begrenzt blieb, nachdem es zur weltweiten Aufführung freigegeben war.