Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Kunst ohne Gattungsgrenzen

Der Maler und Dichter Kurt Schwitters war ein großer Kommunikator und doch introvertiert sowie sensibel. Er entwickelte MERZ eine erweiterte Idee der Collage, eine Kunst die sichtbar mit Konventionen brach.

Von Carmela Thiele | 20.06.2012
    "Ich baue hier ein neues Atelier als sichtbares Zeichen, dass ein neues Leben für mich beginnt. Es muss beginnen, ich bin 50 Jahre alt, da kann man ja noch mal anfangen. Alles in allem ist das Leben so grauenhaft, dass man lieber nie geboren wäre. Mit dieser Prämisse lebt sich's ganz leidlich gut."

    Schreibt Kurt Schwitters, geboren am 20. Juni 1887 in Hannover, aus dem norwegischen Exil an die Amerikanerin Katherine S. Dreier. Die Mäzenin und Künstlerin machte sein Werk in den USA bekannt und schenkte dem Museum of Modern Art ihre Schwitters-Sammlung. Der Avantgardist Schwitters hatte zudem in den 1920er-Jahren mit den Expressionisten und Futuristen in der Sturm-Galerie in Berlin ausgestellt, mit den Surrealisten in Paris. Im Exil war er plötzlich ein Niemand. Dennoch begann er 1937 in der Nähe von Oslo mit seinem zweiten, höhlenartigen Merz-Bau: eine dreidimensionale Collage aus Fundstücken aller Art, die er als zentralen Bestandteil seiner Kunst begriff.

    "Ich nannte meine neue Gestaltung mit prinzipiell jedem Material MERZ. Es ist die zweite Silbe von Kommerz. Es entstand beim Merz-Bild, einem Bilde, auf dem unter abstrakten Formen das Wort MERZ aufgeklebt und ausgeschnitten aus einer Anzeige zu lesen war."

    Das erste Merz-Bild entstand 1919. Auf den Ersten Weltkrieg reagierten die Künstler mit beißender Kritik oder dadaistischer Anti-Kunst. Schwitters las Fragmente des realen Lebens auf, Zeitungsausschnitte, gebrauchte Fahrscheine, Überreste aller Art und klebte sie zu fein abgestimmten Kompositionen zusammen. Der an der Dresdener Akademie ausgebildete Maler zerschnitt dabei zufällig eine Schlagzeile und fand eine neue Welt, die Welt der Collage, des Lautgedichts, MERZ, eine Kunst, die keine Gattungsgrenzen kannte.

    "Kurt Schwitters spricht sein Gedicht: An Anna Blume.
    Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!
    Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, ----wir?
    Das gehört beiläufig nicht hierher."

    Diese Parodie auf die Lyrik prangte 1920 an den Litfaßsäulen von Hannover, das Prinzip "Merz", übertragen auf die Dichtung. Schwitters wurde mit einem Schlag bekannt. Anna Blume wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Mit seinen Wortspielen hatte der Künstler den Zeitgeist getroffen.

    "Weißt du es Anna, weißt Du es schon?
    Man kann dich auch von hinten lesen.
    Und du Herrlichste von allen,
    Du bist von hinten wie von vorne:
    A----N----N----A.
    Rindertalg träufelt STREICHELN über meinen Rücken.
    Anna Blume,
    du trophes Tier
    Ich-------liebe-------Dir!"

    Sein schräger Humor öffnete ihm die Türen: "Ich bin Maler, ich nagle meine Bilder." Mit diesen Worten soll sich Kurt Schwitters dem Dadaisten Richard Huelsenbeck vorgestellt haben. Der Merzkünstler nahm nach dem Anna-Blume-Erfolg Kontakt mit der provozierenden Anti-Kunst-Bewegung Dada auf, er freundete sich mit den Vertretern der holländischen und russischen Avantgarde an, unternahm Vortragsreisen, begann in seinem Elternhaus seinen ersten Merzbau, dessen spielerische Materialexperimente bis auf den Dachboden und über den Balkon wucherten. Eine Rekonstruktion ist heute im Sprengel-Museum in Hannover zu sehen.

    Es verwundert nicht, dass Schwitters Werke, die die Konventionen so sichtbar brachen in den "Entartete-Kunst"-Ausstellungen der Nationalsozialisten landeten. 1937 wurde es Zeit für ihn, Deutschland zu verlassen. Im Exil, zunächst in Norwegen und dann in England, litt er unter der mangelnden Anerkennung. Gleichwohl arbeitete er weiter. Schwer herzkrank, versuchte er im Lake District sein Lebenswerk weiterzuführen und begann einen weiteren Merzbau. Sein erster Merzbau war von Bomben zerstört worden; zum zweiten nach Norwegen konnte er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr reisen. Die Lust am Wortspiel verließ Kurt Schwitters auch kurz vor seinem Tode 1948 nicht:

    "Die Gazelle zittert,
    Weil der Löwe brüllt.
    Die Hyäne wittert.
    Doch die KUNST ERFÜLLT."