Donnerstag, 18. April 2024

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Kunst-Star Jonathan Meese zum Brexit
"Ich fühle mich kunstdeutsch"

Er ist Sohn eines Briten, fordert als Künstler aber die weltweite Diktatur der Kunst, in der Nationen keine Rolle spielen. Das lebt Jonathan Meese seit Jahren konsequent schon einmal vor. Er sei über den Brexit nicht traurig, sagt der 50-Jährige: England solle sich künftig einfach auch der Kunst unterstellen.

Jonathan Meese im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 31.01.2020
Jonathan Meese, Maler und Aktionskünstler, steht bei einem Interviewtermin in dem noch geschlossenen Ausstellungsraum der Ausstellung "Die Irrfahrten des Meese". Die Ausstellung in der Neuen Pinakothek, welche Werke aus 25 Jahren zeigt.
"Der Brexit ist irrelevant": Künstler Jonathan Meese fordert Staaten als Gesamtkunstwerke (dpa/Lino Mirgeler)
Den britischen Humor habe er von seinem walisischen Vater geerbt, sagt seine Mutter über Jonathan Meese. Geboren in Tokio, kam er mit drei Jahren nach Deutschland. Das Studium der Volkswirtschaft brach er - wie auch eine Ausbildung an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg - nach wenigen Semestern ab. Sein Interesse für Kunst entdeckte Meese erst mit 22 Jahren. Angeblich fragte ihn seine Mutter bei einem Bummel auf der Hamburger Mönckebergstraße nach einem Geburtstagswunsch und bekam zur Antwort: "Farbstifte und Papier".
Seither zählt der heute 50-Jährige, der häufig in Trainingsanzügen auftritt, zu den wichtigsten deutschen Künstlerinnen und Künstlern der Gegenwart. Seine Gemälde, Zeichnungen, Installationen, Bühnenbilder und Performances waren in wichtigen Museen überall auf der Welt zu sehen. Eine Zusammenarbeit des bekennenden Wagner- und Mythen-Fans mit den Bayreuther-Festspielen scheiterte 2014 - angeblich aus Kostengründen.
In Manifesten und Werken rief Meese eine "Diktatur der Kunst" aus: "[...] die liebevollste Herrschaft einer Sache, wie Liebe, Demut und Respekt, zusammengefasst und gipfelnd in der Herrschaft der Kunst." Dass er bei seinen Auftritten des Öfteren auch den sogenannten Hitlergruß zeigte, wertete das Amtsgericht Kassel 2013 nicht als Identifizierung mit NS-Symbolen, sondern als deren Verspottung im Rahmen der Kunstfreiheit.

Stefan Koldehoff: Sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft, Herr Meese, sind aber der Sohn eines Briten: eines Walisers, um genau zu sein. Sind Sie heute traurig über den Brexit? Fühlen Sie sich als halber Brite?
Jonathan Meese: Ich fühle mich deutsch. Ich fühle mich kunstdeutsch. Ich fühle mich nicht britisch, muss ich ganz ehrlich zugeben.
Koldehoff: Sie sind in Japan geboren. Sie haben lange nur Japanisch und Englisch gesprochen. Richtig?
Meese: Ja, als ganz kleines Kind. Als Dreijähriger konnte ich nur Japanisch. Dann habe ich aber Deutsch gelernt.
Koldehoff: Und Englisch hat nie eine Rolle gespielt?
Meese: Englisch habe ich in der Schule gelernt. Meine Mutter hat mir natürlich die ganzen englischen Sagen und alle Märchen vorgelesen. Ich hatte eine englische Großmutter. Da war ich sehr, sehr gerne. Ich liebe auch England, aber England muss zum Gesamtkunstwerk werden.
Der Künstler Jonathan Meese mit seiner Mutter Brigitte Meese
Der Künstler Jonathan Meese mit seiner Mutter Brigitte Meese (imago / Olaf Malzahn)
Koldehoff: Was heißt das? Völlig wurscht, ob es noch in der EU bleibt oder nicht?
Meese: Ob man in der EU bleibt oder nicht, ist eine politisch-religiös-ideologische Fragestellung und hat mit Kunst nichts zu tun. Wir brauchen das Gesamtkunstwerk Deutschland, das Gesamtkunstwerk Europa, das Gesamtkunstwerk England – im Sinne von Richard Wagner und Ludwig II. von Bayern. Das ist die Marschrichtung. Das ist das, was wir erreichen müssen, und das kann man nicht wählen. Was ich liebe, kann ich ja nicht wählen. Ich liebe Europa; deshalb kann ich es nicht wählen.
Koldehoff: Das ist schon klar. Aber spielen innerhalb von Europa Ländergrenzen eine Rolle? Für die Briten ja offenbar mehrheitlich im Moment schon. Für Sie nicht?
Meese: Ländergrenzen spielen dann eine Rolle, wenn man es mit Humor nimmt. Ohne Humor spielt es tatsächlich keine Rolle.
Koldehoff: Was erwarten Sie denn vom Gesamtkunstwerk England? Kann man überhaupt etwas erwarten?
"Kunst und Liebe"
Meese: Wenn sich England der Kunst unterstellt und überantwortet, dann kann man sehr viel von England erwarten. Wenn England sich politisch oder religiös formiert, kann man gar nichts erwarten. Das ist aber auch bei Deutschland so. Ein politisch-religiös-ideologisches Deutschland ist völlig zukunftslos. Wir brauchen ein Gesamtkunstwerk, etwas Unwählbares. Wir müssen dafür sorgen, dass Kunst uns regiert und die Liebe. Die kann ich ja auch nicht wählen.
Koldehoff: Da haben Sie recht. Sie haben mal von einer Diktatur der Kunst gesprochen. Ist es das, was Sie meinen?
Meese: Die Diktatur der Kunst ist ja nur eine radikalste Liebeserklärung an Kunst, und Deutschland muss sich der Diktatur der Kunst unterstellen. Wir müssen das Gesamtkunstwerk Deutschland herstellen, und wir müssen einfach eine Absage an alle Ideologen und Politiker und Religionssüchtigen formulieren, und dann kann es losgehen. Wir müssen die Mitläufer in uns bekämpfen. Wir brauchen keine Gurus mehr.
Koldehoff: Jetzt frage ich mal ganz spießig: Kann Kunst für Krankenhäuser sorgen, für Schulen, für Essen, für Ernährung, für Bildung?
Meese: Ja! Man muss ja nur alles im Namen der Kunst machen. Ich kann ja heute ein Krankenhaus leiten im Namen von Politik, Links- oder Rechtspolitik, oder im Namen von Kunst. Und wenn ich ein Krankenhaus im Namen der Kunst führe, oder eine Stadt, oder ein Hotel, dann fülle ich es mit Liebe. Es geht darum, wie ich Deutschland fülle. Ich muss Deutschland mit Liebe füllen und nicht mit Politik und Religion. Mit ausgereizten Sachen kann ich die Sachen doch nicht mehr füllen.
"Irrelevante Scheingefechte"
Diese ewige Spaltung... Ich meine: Der Brexit, das ist doch Menschen-Roulette. Da springen so viele Leute über die Klinge, und zwar sowohl, wenn ich dafür bin, als auch dagegen. Es ist egal! Für mich ist das immer Glücksspiel. Politik ist für mich Glücksspiel, und mal ist man der Gewinner und mal der Verlierer, und das finde ich als Konzept sehr zynisch. In der Kunst ist man immer Gewinner!
Koldehoff: Das würde umgekehrt bedeuten, Herr Meese: Die Diskussion, die wir nun seit ein paar Jahren führen - Brexit mit seinen Auswirkungen, mit wirtschaftlichen, mit politischen, Religion haben Sie angesprochen -, war eigentlich die völlig falsche Diskussion? Wir hätten über Kunst diskutieren müssen?
Meese: Wir müssen nur noch über Kunst diskutieren und aufhören, immer die Welt in politisch-religiöse Zonen einzuteilen. Das ist das Grundübel von allem. Wir müssen endlich erkennen, dass wir weder international, noch national, noch neutral sein müssen. Wir müssen der Kunst dienen, das ist ganz einfach. Wir müssen einfach alles im Namen der Kunst tun. Das ist ganz simpel, das kann jeder zuhause machen. Dann muss man zuhause bei sich klar Schiff machen und anfangen und nicht sich ewiglich ideologisch zusammenrotten und immer wieder die gleichen Fehler machen.
Brexit – das ist einfach eine völlig irrelevante Frage, ja oder nein. Und da werden nur Enttäuschungen wieder gezüchtet und Enttäuschte. Warum macht man das noch? Das sind Scheingefechte. Das ist völlig irrelevant! Und außerdem darf man sich niemals abhängig machen von politischen Situationen. Das sind ja diese Leute, die jetzt Angst haben. Die machen sich abhängig von Politik. Ich habe das nie gemacht in meinem Leben.
"Unser Land ist ein Kunstdeutschland"
Koldehoff: Sie fordern diese Diskussion über Kunst oder die Herrschaft seit Kunst seit vielen, vielen Jahren. Merken Sie einen Fortschritt?
Meese: Ich merke einen radikalen Fortschritt, weil die Menschen es langsam satt haben, von Politikern oder Politik regiert zu werden. Die Leute haben keine Lust mehr auf links- oder rechtspolitische Zonen. Sie haben keine Lust mehr auf Spaltung. Sie wollen es einfach nicht mehr. Und wir müssen einfach begreifen, dass wir das Wort Kunst vor alles setzen müssen. Wir sind Kunstdeutsche, wir sind Kunstengländer, wir sind Kunstjapaner, unser Land ist ein Kunstdeutschland und wir brauchen ein Kunstengland, wir brauchen ein Kunstschottland. Diese ganzen anderen Fragestellungen ziehen so dermaßen die Kraft ab, und wir kochen immer nur in unserer eigenen Suppe und produzieren Opfer – und das macht Kunst nicht. Kunst produziert keine Opfer – null! Ich meine, wir müssen doch mal Richard Wagner und Ludwig II. von Bayern zuhören. Die haben das Gesamtkunstwerk schon gefordert.
Koldehoff: Braucht dieses Gesamtkunstwerk irgendeine Art von Leitung oder Steuerung aus Ihrer Sicht?
Meese: Die Steuerung wird automatisch passieren, wie Liebe uns steuert, wie die Sonne uns steuert, ohne dass wir sie anbeten. Wir werden die ganze Zeit gesteuert: von Schlaf, von versachlichter Führung. Wir brauchen Versachlichung. Wir sind zu unsachlich geworden. Wir schenken immer irgendwelchen Menschen politische Macht und sind dann enttäuscht, weil sie es auch nicht bringen können. Das ist vorbei! Das Prinzip ist vorbei. Wir können Deutschland nicht mehr in ein Parteiprogramm quetschen. So klein kann man Deutschland nun wirklich nicht machen, dass man es von einer Partei abhängig macht. Das war DDR – auf Wiedersehen!
"Über alles lachen"
Koldehoff: Herr Meese, Ihre Mutter hat in einem Interview mal gesagt: "Er hat diesen englischen Humor von seinem Vater geerbt". Was Sie gerade gesagt haben: Ist das auch Ausdruck dieses englischen Humors?
Meese: Ja! Man muss über alles lachen. Es gibt nichts Heiliges. Und man muss es ohne Verbitterung tun. Wir laufen gerade – oder nicht ich, aber viele Menschen – laufen verbitterten Leuten hinterher. Auch Greta Thunberg: Wenn ich die sehe, denke ich an Tommy Ohrner und das verschenkte Lachen. Mit Verbitterung wird man nichts erreichen, gar nichts! Man wird die Sache nur schlechter machen. Und Gurus brauchen wir nicht, auch keine Kinder-Gurus. Wir brauchen überhaupt keine Gurus mehr. Das ist alles vorbei. Es hat sich als Fehlweg entpuppt. Wir brauchen überhaupt keine Menschenführer mehr. Wir brauchen Führung, aber nicht Führer. Das ist eindeutig! Wer immer wieder in diese alten Fallen tappt, der hat selber Schuld und der muss auch irgendwann mal in den Spiegel gucken und sagen: Ja, ich bin das Problem. Hört doch mal auf, Mitläufer zu sein, und übernehmt doch mal die Verantwortung für alles das, was ihr tut.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.