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Kunst und die digitale Zukunft

Liquid Culture steht für eine Verflüssigung der Grenzen zwischen Künstlern und ihrem Publikum. Medientheoretiker, Philosophen, Autoren und ihre Follower diskutierten in Tutzing über digitale Entwicklungen und deren Einfluss auf die Kunst- und Kulturszene.

Von Susanne Lettenbauer |
    Man stelle sich eine Rampe vor. Ein Förderband in einem Bergwerk, wie gleich das erste Bild der Tagung "Kultur als Software. Eine neue Version ist verfügbar". Unablässig fallen die zutage geförderten Rohstoffe auf einen wachsenden Berg. Bagger schürfen nach immer neuen Flözen. Nach neuem Input, das von dem Medium Rampe an die Öffentlichkeit getragen wird. Das war die Kultur der Vergangenheit, meint dieses Bild. Eine Einbahnstraße. Die Suche nach dem immer Neuen, dem nie Gehörten, nach jungfräulichen Ideen. Maler, Bildhauer, Schriftsteller und Journalisten förderten sie zutage. Am Ende des Förderbandes stand die breite Masse, die diesen Input auffing, schluckte, konsumierte. Oft kommentarlos. Der Weg rückwärts zum Medium, zur Rampe war unerreichbar. Bis zur Digitalisierung. Seitdem ist das Medium die Botschaft, die Rampe der Rohstoff, das Schreiben ein Event, meinen die Referenten in Tutzing. So hat es auch der Münchner Autor Dirk von Gehlen erfahren. Sein Buch wurde als Art Versuchslabor unter Beobachtung von 350 Lesern geschrieben und finanziert. Das Ziel:

    "Nämlich Kultur in einen prozessualen Charakter zu überführen und das ist nur möglich, wenn man den passiven Konsumenten zu einem aktivierbaren Rezipienten macht, der sozusagen teilnehmen kann, Einblick bekommt in den Entstehungsprozess. Das ist die Kernidee von Kultur als Software: Die Kultur in den digitalisierten Raum zu übertragen. Filme, Musik, Videos zu digitalisieren heißt auch, anzuerkennen, dass sie ihren Aggregatzustand ändern."

    Früher war Kultur ein Eisblock, meint Gehlen vor den Tagungsteilnehmern. Heute ist aus dem Eisblock Wasser geworden, Liquid Culture, das wir gemeinsam auf Flaschen ziehen müssen. Kunst und Kultur gehören nicht mehr nur den Urhebern und Besitzern. Bücher nicht mehr nur den Autoren, der Urheber wird zum Ideengeber, ungeachtet der aktuellen Urheberrechtsdebatte – tatsächlich ein Epochenwandel, finden auch die Zuhörer. Das mittelalterliche Ius primae noctis, das Recht der ersten Nacht, ist Vergangenheit, der Künstler als gottesgleicher Schöpfer jungfräulicher Ideen hat ausgedient, so Autor Gehlen:

    "Ich glaube, der Autor wird zu einer Art Gastgeber. Ich stelle mir das Buch eher als ein Raum, als Salon vor, in dem der Autor wie der Salongastgeber Menschen einlädt, Ideen einlädt. Das sind die Leser, die da teilnehmen, aber auch Ideen, Inspirationen, die er selbst von irgendwoher bekommen hat. Das ist das Gegenbild zur medialen Rampe, zu sagen, wir müssen eigentlich Kultur als Raum sehen."

    Wir beginnen heute immer in der Mitte, wird bei jedem Vortrag dieser Tagung vermittelt. Ohne Anfang, ohne Ende, eine Chance, aber auch eine verwirrende Zeit, in der Grenzen verschwimmen, alte Ufer erodieren - eine Entwicklung, die in den 1960er-Jahren vom Medientheoretiker Marshall McLuhan vorhergesagt wurde und heute mit allen Konsequenzen die Gesellschaft umkrempelt. So wie die Entwicklung des Buchdrucks durch den Mainzer Johannes Gutenberg, die Verdrängung des Mündlichen durch den gedruckten Text, der Eintritt in die Gutenberg-Galaxie. Der Rückzug der Gemeinschaft ins Private. Doch das ist vorbei, lautet ein Fazit der Tutzinger Tagung. Wir sind wieder auf dem Weg in die Gemeinschaft und auch in die Netzfamilie. Heute kann jeder seine Ideen in Kultur und Politik einbringen, siehe Stuttgart 21, unzählige Castingshows, zahlreiche Shitstorms in sozialen Netzwerken und auch die Wiederentdeckung des gemeinsamen Singens im Wirtshaus. Kultur ist zur Software geworden, die jeder weiterentwickeln kann, wenn er will, sagt Felix Stalder, einer der Referenten der Tutzinger Tagung. Dass das die wahre Demokratisierung der Gesellschaft bedeutet bezweifelt der Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der Züricher Hochschule der Künste jedoch:

    "Demokratisierung ist vielleicht zu viel gesagt. Es ist eine Popularisierung. Was entsteht, ist eine neue Form der Volkskultur, also nicht in dieser Musikantenstadl-Version, sondern dass Menschen Kultur für ihre eigene Umgebung machen und aktiv an der Hervorbringung dieser Kultur beteiligt sind. Das ist nicht Hochkultur in dem Sinne von zeitlosem Werk, sondern Alltagskultur."

    Die Zeit der Leuchttürme ist vorbei, sagt auch Wolfgang Ullrich, Professor für Kunstwissenschaft und Medienphilosophie Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Heute geht es nicht mehr um den Stolz auf das eigene Werk, sondern um den Netzwerkstolz, die Zahl der Follower oder Freunde, die man sich selbst aussuchen kann. Wen wir in unsere halböffentlichen Räume einladen, wer zum Salon 2.0 dazugehört, entscheiden wir. Bedeutungen in unserem eigenen Leben werden neu verhandelt. Aber, so Ullrich:

    "Ich glaube nicht, dass wir uns von irgendwas verabschieden müssen oder dass es eine grundsätzliche Ablösung des einen durch das andere geben wird, aber es gibt ein neues Ziel, warum jemand sich kreativ engagiert, nämlich nicht eher das Ziel ein fertiges Werk irgendwann zu haben, was gedruckt wird, sondern das Ziel kreativer Tätigkeit kann darin bestehen, sich individuell ein herausragendes, besonderes, markantes Netzwerk aufzubauen."

    Kultur als Gemeinschaftsunternehmen, das ist nicht neu, weiß man aber auch auf der Tagung. Die Gefahr der Beliebigkeit, der Flüchtigkeit stellt sich heute jedoch ganz anders. Wenn Kultur als Software funktioniert, beträgt die Halbwertzeit höchstens ein paar Wochen. Eine neue Version ist dann absehbar. Wohin das führt? Noch weiß keiner darauf eine Antwort, auch nicht auf der zukunftsweisenden Tutzinger Tagung. Das macht es ja so spannend, sagt eine Teilnehmerin, die Hamburgerin Nicola Wessinghage, die Bücher nicht mehr nur konsumieren wollte. Sie hat als quasi Prosumentin an dem experimentellen Gemeinschaftsbuch des Dirk von Gehlen mitgeschrieben:

    "Als alle Kapitel fertig waren kam eine Rundmail, eine erste Version ist verfügbar. Da dachte ich, warum ein erste? Wann ist eine Version eine Version? Das ist letztlich die Definitionsmacht des Autors zu sagen, eine neue Version ist verfügbar, und wie das jetzt weitergeht, das ist ja noch ganz offen, das ist ja Teil des Experimentes, ob sich andere vielleicht an neue Versionen wagen."