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Kunst und Wahnsinn

Im Wien der Jahrhundertwende wucherten Musik, Literatur, Malerei, Architektur und Naturwissenschaft geradezu. Jetzt zeigt eine Ausstellung im Wien Museum, dass dieses Dickicht aus Kunst und Wahnsinn noch keineswegs vollständig durchforstet ist.

Von Beatrix Novy |
    Eng, sehr eng ist der Eingang zur Ausstellung, die in die erste Etage des Wien Museums eingebaut ist. Das Gefühl des Eingemauertseins stellt sich absichtsgemäß ein beim Betreten der dämmrigen Klause, die an den Wänden beunruhigend schwankende Videoprojektionen des legendären Narrenturms zeigt: Ein rundes hohes Gemäuer in engem Hof , das ist die zu ihrer Zeit durchaus fortschrittliche Einrichtung für Geisteskranke, die Kaiser Josef II., der Aufgeklärte, 1784 bauen ließ. An den Wänden der Ausstellungskoje grimassieren die unheimlichen Charakterköpfe des Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt: Zeugen einer Physiognomik, die glaubte, vom Gesicht auf die Psyche schließen zu können.

    Ähnliches kennzeichnete auch noch die Wiener Psychiatrie um 1900, deren Beziehung zu Kunst und Wahnsinn in dieser Ausstellung geklärt wird. Gibt es denn etwas zu klären? Ist nicht das Wiener fin de siècle mit seinem Geflecht aus Psychoanalyse, Musik, Literatur, bildender Kunst, Architektur und Naturwissenschaft, mit Freud, Mahler, Schnitzler, Altenberg, Loos, ist diese frühe Kulmination der Moderne nicht ein übergründlich erforschter Topos? Und dann der Titel "Kunst und Wahn": Weiß doch jeder, gerade seit Freud, dass Künstler mindestens Borderline sein sollten, um gut zu sein – oder?

    Die Wirklichkeit ist immer vielfältiger. Schon vor und gleichzeitig mit Freud gab es eine weit entwickelte Psychiatrie, die viele faszinierte und an der ästhetischen Revolution der Künste ihren Anteil hatte. Gleichzeitig bediente sich die Kunst des Faszinosums "Wahnsinn" auf mitunter kokette Weise. Peter Altenberg, der sich selbst gern als leicht meschuggenes Nervenbündel porträtieren ließ, hielt einem Maler, vermutlich Oskar Kokoschka, vor, er habe sich van Goghs echten Irrsinn "zunutze gemacht, um den Erwartungen seiner Auftraggeber zu entsprechen".

    Wirklich, wen der unangreifbar etablierte Kokoschka porträtierte, fand sich in einer Aura von Unruhe und Düsternis, mit nervös gefalteten oder fuchtelnden Händen. Einer seiner Kunden erklärte, offenbar nicht unzufrieden, Kokoschka habe ihn so erwischt, dass "nach Wegfall der Oberschicht das Gesicht eines ziemlich verwegenen Sträflings zum Vorschein gekommen war." Gustav Klimt gab seiner Allegorie der Medizin eine wüste Gesell.

    Wenn Egon Schiele sich in seinen Selbstporträts gnadenlos verzerrt, verschoben und verkrümmt darstellte, dann stand er womöglich unter dem Einfluss psychiatrischer Fotografien: Solche, wie sie wissenschaftlich-akribisch an der Salpètriere gemacht wurden, von nackten Patienten, deren motorische Gebrechen meist umstandslos als geistige Degeneration interpretiert wurden.

    Und doch waren die Fortschritte der Psychiatrie unübersehbar, ein Monument dieses Fortschritts war die Krankenanstalt Steinhof: Wolfgang Kos, Leiter des Wien Museums,

    "Die ganze Psychiatrie heute is a Rückschritt im Vergleich zu damals. Also wann man die Zimmer anschaut, viel größer, viel mehr Aufmerksamkeit im Detail usw."

    Bis heute beeindruckt das Bündnis des modernen Glaubens an die Heilkraft von Luft und Licht mit der zweckmäßigen, aber das Symbolische betonenden Architektur Otto Wagners. 60 Pavillons auf hochgelegenem Gelände, gekrönt von der Kirche mit ihrer hellgrünen Kuppel. Die Ausstellung zeigt sie im Modell und vielen Abbildungen.

    Aber Zimmergröße und Luxus der Versorgung galt vor allem der Patientengruppe, die hier nicht zwangseingewiesen wurde, sondern zur Behandlung unklarer Leiden wie Neurasthenie herkam oder weil sie ihren "Morphinismus" loswerden mussten. Sabine Wieber, Historikerin des Museums:

    "Es war eine Schande, ein Familienmitglied zu haben, das geisteskrank war, aber es war chic, im Sommer im Sanatorium zu sein, weil man Essstörungen hatte oder zuviel Kaffee getrunken hat oder diese nervösen Krankheiten hatte."

    Ein Werbeplakat preist "10 mit höchstem Komfort eingerichtete Pavillons" und zeigt Schwimmbad, Speisesaal, Foyers und Suiten, in einer davon logierte auch der Schriftsteller Peter Altenberg, auf der Flucht vor der großstädtischen Zivilisation, die er einerseits dringend brauchte, die andererseits als das Gift galt, das Hysterie und Hypochondrie erzeugte. Wie in modernen Fitness-Studios wurde gegen die schlappe Lebensweise der Besitzenden mit Bewegungs-Geräten angekämpft.

    Steinhof und andere Sanatorien übten große Anziehungskraft auf Künstler aus. Und Freud? Seine neue Sicht auf die Psyche war eine klare Absage an das, was die Kunst so beflügelte: die Zivilisationskritik und das Studium sichtbarer Anomalien. Als Max Oppenheimer im Jahr 1907 Freud porträtierte, kam ein wenig lebensnahes Bild heraus. Freuds Tochter wollte es nicht geschenkt haben.