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Kunst zum Mitnehmen

Der 1996 verstorbene amerikanische Künstler Felix Gonzalez-Torres fordert die Besucher seiner Ausstellungen auf, sein Werk mitzugestalten und stellt somit die Unantastbarkeit des Kunstwerkes in Frage. Seine Arbeiten entfalten erst ihre ganze Bedeutung, wenn man sich ihrer - im Wortsinn- bedient.

Von Carsten Probst |
    Es ist also Kunst zum Mitnehmen, die hier präsentiert wird. Gleich im Foyer überrascht einen eine große quadratische Fläche aus 544 Kilogramm Bonbons in Goldpapier auf dem Fußboden. Und es muss im Hamburger Bahnhof auch noch ein Depot mit diesen Bonbons geben, denn ständig wird man in dieser Ausstellung irgendwo durch Schilder aufgefordert, sich doch bitte bei den Bonbons zu bedienen. Überall trifft man immer wieder man auf kleine Bonbonecken, einmal in grün, dann in Silberpapier und dann in anderen Farben.

    Oder man trifft auf große Papierstapel, ebenfalls zur freien Bedienung: Papier, säuberlich zu 5000er oder größeren Stapeln geschichtet, wie man es aus Druckereien kennt, Papiere verschiedener Größe. Manche mit kleinen, kaum lesbaren Schriftzügen, manche mit einfachen Schwarzweiß-Mustern, wieder andere mit Fotografien von Wolken und Meereswellen. Und auch hier immer wieder die Aufforderung, sich zu bedienen.

    Wie Wolken oder Meereswellen, so soll auch die Kunst aus dem Museum fortgetragen werden, das war eine der Ideen von Felix Gonzalez-Torres, und das gibt den vielschichtigen Installationen des gebürtigen Kubaners bei aller Strenge der Form auch etwas Verträumtes. Wann darf man schon einmal aus einem Museum so einfach etwas mitnehmen? Diese Papier- und Bonbon-Installationen stammen vom Ende der 80er, Anfang der 90er-Jahre, mithin aus jener Spätphase der anti-hierarchischen Kunstströmungen, die in den sechziger Jahren mit der Minimal Art begonnen haben und mit der Concept Art fortgesetzt und radikalisiert wurden.

    Das Museum als Herrschaftsort, wo über Gültigkeit und Bedeutung von Kunstgeschichte und Kunstwerken gerichtet wurde, wurde längst nicht mehr akzeptiert. Weshalb es manchen auch noch immer wieder ein Witz der Geschichte erscheint, dass gerade auch diese Kunst sich heute wieder in Museen findet. Immerhin, Felix Gonzalez-Torres hat auch zu Lebzeiten schon die Kunstinstitutionen nie gescheut, hat in Galerien und Museen ausgestellt, um deren Räume selbst zu Bestandteilen seiner Kunst zu machen. So hat er also seine "stacks", jene Papierstapel, deren kubischen Formen deutlich die Minimal Art zitieren, ganz bewusst wie etwas Flüchtiges in die Museumsräume gestellt, um damit, zumindest symbolisch, dem Museum die Verfügungsgewalt über das Kunstwerk zu nehmen.

    Daneben verfolgt Gonzalez-Torres aber auch politische Botschaften. Mitunter finden sich kleine kritische Hinweise auf die US-amerikanische Politik auf den Papierstapeln und macht sie so gleichsam zu Flugblättern. Die Bonbonstapel hingegen bezeichnet der Künstler, der 1997 in den USA an AIDS starb, als "Placebos" - Hinweis auf die damals noch vollkommen hilflose Medizin, die keinerlei Mittel gegen die Immunschwäche entwickelt hatte, und auf das Schicksal der Erkrankten. Aber vermutlich kann man es auch als ein allgemeines Sinnbild für die Rolle der Kunst in der modernen Gesellschaft lesen.

    Obwohl Gonzalez-Torres nur 38 Jahre alt wurde, zählt sein Werk doch zu den intensivsten, eindrucksvollsten der späten Konzeptkunst. Nicht wenige Künstler, die sich heute um alternative Ausstellungsorte und eine neue Öffentlichkeit für Kunst bemühen, beziehen sich auf Gonzalez-Torres' Installationen, die jetzt auch im Berliner Stadtraum zu finden sind. An vielbelaufenen Orten wie dem Alexanderplatz sieht man dieser Tage schwarze Billboards, auf denen die mehr oder weniger bedenklichen Daten der jüngsten Geschichte aufgezählt werden.

    Das Gegenprogramm also zur Ablenkungsstrategie der allgegenwärtigen Werbung. Manchen mag das als naiv erscheinen, als leere Geste, als ob Kunst sich anheischig mache, tatsächlich etwas "ändern" zu wollen. Doch Felix Gonzales-Torres war nie ein politischer Kunstprediger - allen seinen Installationen ist die leise Ironie anzumerken, der Spaß daran, die erwartbaren Reaktionen auszulösen und aufeinander prallen zu lassen. Die Verunsicherung, die sein Werk auch heute noch auslöst, betrifft die Rolle der Kunst, nicht der Politik. Dass es funktioniert, lässt sich im Hamburger Bahnhof eindrucksvoll beobachten.