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Kunstmäzen, Dandy, Offizier und Pazifist

Harry Graf Kessler war ein gewissenhafter Tagebuchschreiber. 57 Jahre lang schilderte er Begegnungen mit Künstlern und Denkern aus Europa, hielt tagesaktuelle Ereignisse fest und entwarf politische Visionen. Gerade ist der letzte Band seiner Tagebücher erschienen, die Chronik der Jahre 1926 bis 1937.

Von Niels Beintker | 19.04.2010
    Am 20. Juli 1935 traf Harry Graf Kessler in Paris den ehemaligen Reichskanzler und Zentrumspolitiker Heinrich Brüning. Zufällig, wie er im Tagebuch bemerkte, und in Begleitung der Schriftstellerin Annette Kolb. Die drei Exilanten verabredeten sich für den Abend, dem Essen in einer kleinen Dachwohnung folgte eine lange Erörterung der aktuellen Lage in Deutschland. Unter anderem kam Brüning, der Architekt der berüchtigten Notverordnungen in der späten Weimarer Republik, auf den angeblich schwindenden Rückhalt der NSDAP in der deutschen Bevölkerung zu sprechen. Mindestens 60 Prozent der Studenten seien schon Anti-Hitler, sagte er. Ebenso die meisten jüngeren Reichswehroffiziere. Die Katastrophe, in die Hitlers Regime hineintreibe, lasse sich noch höchstens anderthalb Jahre hinausschieben. Dann müsse die Explosion erfolgen, entweder durch einen Krieg oder durch eine Revolution. Der Aufstand gegen die Nazis blieb bekanntlich aus, der Krieg kam später. Insofern ist das Protokoll der langen Unterredung Ausdruck einer Fehleinschätzung. Auch Harry Graf Kessler schien noch immer an ein absehbares Ende des Dritten Reiches zu glauben, meint Roland Kamzelak. Er ist einer der beiden Herausgeber der großen Edition der Tagebücher des Publizisten, Mäzens, Diplomaten und Pazifisten.

    "Ich glaube wirklich, dass die Intelligenz zu der Zeit bis zum Schluss die Hoffnung hatte, dass die Vernunft siegen wird. Diese Einschätzung gab es auch im Ausland, was man zum Beispiel gut bei Antoni Graf Sobanski nachlesen kann, der nach Berlin reiste, 1933 und 1936, um den Polen ein Bild zu verschaffen, wie es aussieht in Deutschland. Er hat den Wahnsinn dort gesehen und hat immer noch gesagt, Deutschland ist aber ein westliches Land, und, es kann nicht so weit kommen. Das ist nur eine Laune."
    Seit dem 8. März 1933 lebte Harry Graf Kessler im Exil, in Frankreich, Großbritannien und in Spanien, auf Mallorca. Bei seinem letzten öffentlichen Auftritt in Deutschland, drei Wochen nach der sogenannten Machtergreifung, auf dem Berliner Intellektuellenkongress "Das freie Wort", erfuhr er, dass sein Name möglicherweise auf einer Todesliste der Nazis stehe. Und just am Tag des Pariser Treffens mit Heinrich Brüning wurde die gesamte Einrichtung seines Hauses in Weimar versteigert. "Ende der Hauptepoche meines Lebens", heißt es dazu im Tagebuch. Wer die vielen Eintragungen der vorangegangenen Jahre genau liest, kann schon frühzeitig eine tiefe Resignation des bekennenden Republikaners Kessler entdecken. Nach dem Tod des Außenministers Gustav Stresemann am 3. Oktober 1929 befürchtete er – Zitat – "sehr ernste innenpolitische Folgen", unter anderem "Erleichterung der Diktatur-Bestrebungen". Ein knappes Jahr später, einen Tag nach dem verheerenden Sieg der Nazis bei der Reichstagswahl vom 14. September, schrieb er, er sei in einer fast so verzweifelten Stimmung wie während des Zusammenbruchs im Kriege. Und als er vier Wochen danach Zeuge antisemitischer Ausschreitungen in Berlin wurde, hielt er fest: Der Ekel überkomme einen vor so viel verbohrter Dummheit und Bosheit. Die Tagebücher dieser Zeit sind ein Dokument der großen politischen Desillusionierung.

    "Alle seine Bestrebungen, etwas zu ändern, sieht er vereitelt. Das beginnt mit der Ermordung Rathenaus, wo auch wieder so eine Chance da war, diplomatisch wirken zu können. Er war in Rapallo dabei, er hat ihn eng beraten bei diesen Konferenzen. Und durch seine Ermordung wurde das alles zunichtegemacht. Es ging dann so weiter, bis zu Stresemann, bis dahin, dass er ins Exil nach Mallorca fliehen musste."
    Das nun vollständig edierte Tagebuch Harry Graf Kesslers aus 57 Jahren dokumentiert seine politische Biografie auf eine eigentümliche Weise. Er nutzte die fast täglichen Aufzeichnungen als eine Chronik, notierte ausgiebig Gesprächsinhalte, gab detaillierte Schilderungen der vielen Künstler, Intellektuellen, Diplomaten und Politiker, mit denen er in Verbindung stand. Über sein Innenleben schwieg er hingegen, abgesehen von Unmutsbekundungen zu wichtigen politischen Ereignissen. Insofern bleiben viele persönliche Motive verborgen, vor allem auch für sein politisches Engagement nach dem Ersten Weltkrieg. Kessler träumte etwa von einer großen diplomatischen Karriere, blieb aber, in der gesamten Weimarer Republik und trotz guter Kontakte zu Rathenau und Stresemann immer in der dritten oder vierten Reihe zurück. Auch in den Reichstag wurde er nicht gewählt, als Kandidat der DDP. Über die möglichen Enttäuschungen kaum ein Wort im Tagebuch. Genauso schwer fällt es, in diesem Zeitdokument die tieferen Gründe für Kesslers großen inneren Wandel zu finden: vom Offizier im Ersten Weltkrieg zu einem der großen Pazifisten. Herausgeber Roland Kamzelak sagt, Kessler habe einen Krieg besichtigt.

    "Er ist zwar Offizier. Aber, wie es damals üblich war, haben die Offiziere von Ferne mit Ferngläsern zugeschaut. Und ich glaube, er hat wie immer sehr genau hingeschaut und hat eigentlich dort erst gesehen, was passiert. Und das hat in ihm innerlich sicherlich diese Wende eingeleitet hin zu einem Pazifisten, ohne dass das aber sehr reflektiert worden wäre. Weil Kessler ein Beobachter ist nach außen, aber nach innen nicht schreibt, was er dort sieht."
    Gerade darin liegt aber auch der Wert dieses großen Tagebuches. Es ist ein Dokument der Zeitzeugenschaft, gibt authentische Einblicke in die politischen, künstlerischen und sozialen Entwicklungen in dem langen Zeitraum zwischen 1880 und 1937. Und es liest sich stellenweise wie ein großes Drama der Geschichte, dessen Ausgang wir kennen, im Gegensatz zu seinem Verfasser. Über Kesslers Position, die des vermögenden und bisweilen eitlen Bürgers, kann man sich bei der Lektüre gerne empören. Seine große Hoffnung auf ein vereintes Europa, allen wiederholten politischen Enttäuschungen zum Trotz, muss man bewundern. Harry Graf Kessler war eigentlich kein Deutscher, sagt Herausgeber Roland Kamzelak.

    "Sondern er war wirklich ein Europäer. Er sprach auch zwölf Sprachen. Er war par excellence ein Europäer. Und deshalb kommt diese Idee einfach sehr natürlich für ihn daher. Aber es ist sehr schwer herauszulesen, ob er aus einer tiefen inneren Überzeugung diese Idee verfolgt hat."
    Abgesehen von den Heften aus seiner Schulzeit ist Harry Graf Kesslers Tagebuch nun vollständig veröffentlicht. Man kann sein Leben und seine Zeit nachvollziehen, bis zu seinem Tod im Herbst 1937, völlig veramt und vereinsamt im französischen Exil. Mit insgesamt neun umfangreichen Bänden eine große und verdienstvolle Edition: die Erschließung einer bedeutenden Quelle für Kunst, Politik und Alltag. Allerdings mit einem Manko. Die Herausgeber haben auf einen ausführlichen begleitenden Kommentar verzichtet. Zwar hat jeder Band eine längere Einleitung und ein großes Register. Zur genauen Lektüre benötigt man dennoch immer wieder ein historisches Handbuch für die jeweilige Epoche. Am Wert der Tagebuchedition ändert das nichts. Sie hätte allerdings noch lesbarer sein können.

    Die Edition der Tagebücher von Harry Graf Kessler ist bei Klett Cotta erschienen. Seit Kurzem liegt nun auch der letzte Band vor, die Tagebücher der Jahre von 1926 bis 1937, herausgegeben von Sabine Gruber und Ulrich Ott. 855 Seiten kosten 63 Euro, ISBN: 978-3458334798.