Sonntag, 19. Mai 2024

Archiv

Kunstmuseum Stuttgart
Zwei unkonventionelle Frauen

Die beiden Künstlerinnen Luise Richter und Gertrud Goldschmidt vereint ein ähnlicher Lebensweg: Beide studierten in Stuttgart, beide wanderten zum Arbeiten nach Venezuela aus. Das Kunstmuseum Stuttgart zeigt eine Ausstellung mit überraschender Pointe.

Von Christian Gampert | 29.03.2014
    Alles entwickelt sich aus der Linie heraus. Die Linie fältelt sich auf in den Raum, bildet dort Objekte und Netzwerke, gleichmäßige geometrische Strukturen und auch organisch anmutende Lebewesen - vor allem aus Draht, aber auch aus anderen Stoffen. Immer sind diese Raumobjekte aus der Zeichnung heraus gedacht - und das deutet auf eine einschlägige Ausbildung hin: Gertrud Goldschmidt, genannt Gego, geboren 1912 in Hamburg, hatte bei Paul Bonatz in Stuttgart Architektur studiert. 1939 emigrierte sie nach Venezuela und wurde dort zu einer der bekanntesten Künstlerinnen.
    Die Leichtigkeit und Transparenz ihrer Arbeiten wird nun, zwanzig Jahre nach ihrem Tod, in Stuttgart erstmals breit gewürdigt, und es ist dem Geschick des Stuttgarter Kunstmuseums zu danken, dass die Ausstellung mit der jetzt 86-jährigen Luisa Richter eine zweite, kongeniale Protagonistin mit ähnlichem Werdegang hat: Richter hatte nach dem Zweiten Weltkrieg bei Willi Baumeister in Stuttgart Malerei gelernt. Dann heiratete sie einen Ingenieur und ging 1955 nach Caracas. Allein durch diese beiden Frauenschicksale hat die Ausstellung eine überraschende Pointe: Nie hätten die beiden in Deutschland - damals - so unkonventionell leben und arbeiten können, sagt Kuratorin Eva-Marina Froitzheim.
    "Beide Künstlerinnen, Luisa Richter wie Gego, wären wahrscheinlich nie zu dieser künstlerischen Freiheit gekommen, wenn sie nicht den angestammten Kontinent verlassen hätten, um in Caracas neu aufzubrechen…"
    Luisa Richter, die bis in die 1990er-Jahre immer wieder in ihrem Elternhaus bei Stuttgart war und dort auch arbeitete, ist geprägt durch das südamerikanische Licht. Ihre stadtgrauen, hellen Farben, die manchmal auch bläulich schimmernde Transparenz ihrer vielfach gebrochenen, großformatigen "Flächenräume" führen in eine andere Welt, jenseits von Figur und Abstraktion. Sie vermitteln ein Gefühl von unbestimmter Weite, von Offenheit in den Raum hinein, das sich auch in den Titeln mitteilt - "Lichtdehnung", "Rhythmisches Gebet", "Plan und Wagnis" heißen sie. Das ist völlig emanzipiert von der konstruktiven Abstraktion ihres Lehrers Willi Baumeister, es ist etwas ganz Eigenes. Auch die Collagen, die zum Teil dunklere Themen verhandeln und etwa auf den Tod des Sohnes reagieren, haben diesen leicht mystischen Drift: braune Aquarellschlieren bilden eine flügelartige Kreuzesform, die wiederum von architektonischen Strukturen aufgefangen werden.
    Innere, persönliche Freiheit
    Bei Gego, Gertrud Goldschmidt, ist das alles noch viel plastischer und kleinteiliger gedacht. In den gitterartigen Zeichnungen ist unschwer das Erbe von Paul Klee, aber auch eine architektonische Fantasie zu erkennen. Das spinnt sich fort in hängende, verdrahtete Raumstrukturen, Schichtungen gleicher polygonaler Quasi-Moleküle und organhafter "Stämme". Auch hier ist die Leichtigkeit die vorherrschende Qualität: Nichts ist funktional, es gibt kein Zentrum, sondern sich fortschreibende, flexible Zellstrukturen, die zum Teil riesige, raumbeherrschende Spinnennetze bilden. Das ist so filigran wie die frühen Erfindungen des Alexander Calder, offen, tastend, transparent. Dazu kommen kleine Webereien aus Zeichnungen und Fotos, witzige kleine verdrahtete Formen aus den 1980erJahren, die sie "Bichitos", Viecher nennt, und wirkliche Draht-Nester, wo sich die Linienform verdichtet. Am schönsten aber die Strukturen, die als gebogene Rechtecke oder urwaldartige Haare an der Wand hängen und dort, als Schattenspiel, nochmals Zeichnungen hinterlassen.
    Luisa Richter und Gertrud Goldschmidt sind sich natürlich begegnet, sagt Kuratorin Eva-Marina Froitzheim.
    "Weder die Räumlichkeiten, die gebauten und gemalten bei Richter, noch die gebauten bei Gego sind abgeschlossen und insofern ist das tatsächlich auch Ausdruck einer inneren, persönlichen Freiheit, die beide ganz offensichtlich dort gewonnen haben…"
    Wenn es ein Signum für diese Ausstellung geben sollte, dann wäre das Gegos "Vibration in Schwarz" von 1987, eine skulpturale Variation auf die ins Unendliche strebende Möbius-Schleife, Linien, die sich dreidimensional vollenden. Luisa Richter und Gertrud Goldschmidt haben, der Gedanke sei erlaubt, in ihrer abstrakt wirkenden Kunst auch die Lebensrealität der Emigration ins Bild gebraucht: Man muss offen sein und flexibel, sonst geht man unter.