Donnerstag, 28. März 2024

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Kunstprojekt „Atlas der Emotionen“
Mitten ins Herz der Kulturhauptstadt Matera

Matera gehört zu den ältesten Städten der Welt. In der süditalienischen Kulturhauptstadt geht jetzt eine interaktive Ausstellung den kollektiven Erinnerungen und Gefühlen seiner Bewohner auf den Grund und entwickelt daraus einen bewegenden Stadtplan der Emotionen – das soll weltweit Schule machen.

Von Heike Schwarzer | 11.04.2019
Schreien ihre Wut heraus: Teresa und Chiara stehen bei der Performance in der Bibliothek von Matera, rufen und werfen Papier in die Luft
Schreien ihre Wut heraus: Teresa und Chiara bei der Performance in der Bibliothek von Matera (Deutschlandradio/Heike Schwarzer)
Darauf hat Teresa schon lange gewartet. Gemeinsam mit ihrer Freundin Chiara steht sie bei der Ausstellungsperformance für den "Atlas der Emotionen" auf einer Empore in der Bibliothek und schreit ihre Wut heraus.
Teresa arbeitet in der Bibliothek von Matera. Die Dokumente hier vergessen nichts: Seit 11.000 Jahren siedeln Menschen in den berühmten "Sassi" - altertümlichen, in Felsen gegrabenen Wohnsiedlungen. Jede fremde Kultur hat Spuren in den Höhlenvierteln hinterlassen, als Höhlenmenschen wurden die Materani beleidigt, als Schande Italiens. Und heute? Statt Armut gibt es AirBnB. Matera ist zum Hotspot für Touristen geworden. Doch die Geschichte wirkt bis heute. Was Teresa unbedingt laut sagen will:
Teresa: "Lernt eure Geschichte! Kommt in die Bibliothek! Lest, denn hier stehen unsere Geschichten geschrieben."
Geschichten voller Emotionen und Abgründe
Teresa sitzt, als sie davon erzählt, mit Freundin Chiara in dem einstigen Klostergebäude zwischen meterhohen Bücher- und Zeitschriftenregalen. Sie habe Matera nie gemocht, sagt die 60-Jährige heute. Deshalb hat sie in ihrem persönlichen "Atlas der Emotionen" die Bibliothek mit Wut markiert, aber doch auch die Gastfreundschaft und in den Sassi, die Grenzüberschreitung.
Keine ihrer Schulfreundinnen traute sich in die verlassenen Höhlenviertel zu gehen, sie schon. Heimlich traf sie dort Freunde, hörte Musik – eine Jugend in Freiheit, die sie jetzt erst zu schätzen weiß, jetzt, durch den "Atlas der Emotionen" – und die Begegnung mit Heike Hennig, Regisseurin und Choreographin aus Leipzig, die Zeitsprünge und Brüche schon immer faszinieren. Was Menschen bewegt, ihre kollektiven Empfindungen, wandelt sie durch Tanz, Film und Performance in neue Bewegung.
Blick von außen statt Nabelschau
Heike Hennig: "Diese Empfindungen, die sie aufgeschrieben haben zwischen Tristesse, zwischen Freude, zwischen Ekel, zwischen Erstaunen, zwischen Traurigkeit, diese Emotionen - deshalb auch ‚Atlas der Emotionen‘ -, diese Abgründe auch, die sind natürlich toll zu inszenieren, und ja, eben, diese ureigenen Geschichten, die sind die beste Basis gewesen",
beschreibt Heike Hennig ihr Ausgangsmaterial. Die Idee zum "Atlas der Emotionen" stammt von Pionieren des italienischen Labortheaters: Massimo Lanzetta und Luciana Paolicelli vom Teatro dei Sassi in Matera. In Heike Henning fanden sie eine Partnerin mit Erfahrung in partizipativen Theaterproejkten.
Jetzt entfaltet sich der "Atlas der Emotionen" in den Räumen der Bibliothek von Matera: wie ein Herz mit drei Kammern, gespeist von rund 4000 Erinnerungen, gefiltert durch die Turiner Schreibschule des Bestsellerautors Alessandro Barrico und aufgelöst in rund 40 interaktiven Stationen. Aus den Fragmenten vieler Emotionen entstand außerdem ein Film, den Heike Hennig mit Luca Acito, Filmemacher aus Matera, für die Ausstellung realisierte. Man sieht, wie der Tanz Verbindungen schafft zwischen sehr alten und sehr jungen Menschen, zwischen poetischen Bruchstücken und besonderen Orten. Dieser gemeinsame Blick auf Matera öffnet neue Perspektiven.
In politischen Zeiten wie diesen, tue Nabelschau nicht gut. Der Blick von außen wie jetzt von Heike Hennig auf Matera, jede Konfrontation – mag sie weh tun oder überraschen – sie birgt die Chance, um weiterzukommen. Nicht nur in der Kunst, auch im Alltag.
Und deshalb, so die erste Idee von Massimo Lanzetta, soll der "Atlas der Emotionen" von Matera aus weiter wandern, sollen auch Menschen in Berlin, in Indien oder wo auch immer, erzählen, wo das echte Leben spielt. Das Oral-History-Projekt von Matera soll Modellcharakter haben.