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Kunstraum als Spukschloss

Strawinskis Petruschka-Musik und Gewittergeräusche im Ohr, ein Zinedine-Zidane-Film auf 17 Leinwänden, phosphoreszierende Poster und blitzende Leuchtobjekte: Dem französischen Künstler Philippe Parreno ist in Paris ein Gesamtkunstwerk gelungen.

Von Kathrin Hondl | 22.10.2013
    Ein Künstler bespielt eine Kunsthalle, heißt es oft. Aber selten passt das Wort bespielen so gut, wie bei Philippe Parrenos großer Ausstellung im Palais de Tokyo. Überall nämlich ist in dieser weitläufigen und verwinkelten Inszenierung Klavierspiel zu hören, klingt aus Flügeln und Klavieren die Musik von Igor Strawinskis Ballett "Petruschka".

    "Musik ist der präziseste Ausdruck von Zeit. Statt ein zufälliges Rauschen erklingen zu lassen und selbst alles zu entscheiden, habe ich mich bei dieser Ausstellung für ein Musikstück entschieden, das die Führung übernimmt. Ein bisschen nach dem Zufallsprinzip. Ich fand das interessant, weil ich das noch nie so gemacht habe."

    Petruschka, die melancholische Kasparfigur russischer Jahrmärkte oder vielmehr Strawinskis Petruschka-Musik begleitet also die Besucher über Treppen und durch Gänge und Säle der mehrere Tausend Quadratmeter großen Ausstellungsfläche. Parreno ist der erste Künstler, der den gigantischen Palais de Tokyo auf diese Weise allein gestalten darf. Eine besondere Herausforderung sei die Größe des Raums allerdings nicht, sagt er, jedenfalls keine größere Herausforderung als die, Kunst zu machen.

    "Eine Ausstellung ist ein Experiment, eine Erfahrung – nicht einfach nur eine Reihe von Ausstellungsstücken. Das war schon immer mein Prinzip. Dass dieses Gebäude hier so groß ist, ist dabei von Vorteil. Der Raum ermöglicht vielfältige Perspektiven."

    Und so werden natürlich auch andere Perspektiven auf bekannte Arbeiten möglich. Im Untergeschoss ist der Film über den Fußballstar Zinedine Zidane zu sehen, den Philippe Parreno 2006 gemeinsam mit dem schottischen Künstler Douglas Gordon realisiert hat: "Zidane – ein Portrait des 21. Jahrhunderts", ein 90-minütiger Film, gedreht mit 17 Kameras während eines Spiels Real Madrid gegen Villareal. Der Film lief schon auf Filmfestivals, in Ausstellungen, Kinos und in einem Fußballstadion. Im Palais de Tokyo ist er jetzt zum ersten Mal auf 17 Leinwände projiziert, zwischen denen die Besucher sich wie in einem großen Zidane-Bilder-Wald bewegen.

    Bücherregal als geheime Drehtür
    "Bilder tauchen immer wieder auf wie Gespenster", sagt Philippe Parreno, und ein bisschen geht es einem in dieser Ausstellung tatsächlich wie Gespensterjägern, die in einem Spukschloss unterwegs sind.

    Da entpuppt sich zum Beispiel ein Bücherregal an der Wand als geheime Drehtür, die den Durchgang zu einem Ausstellungsraum mit Zeichnungen ermöglicht. Und richtig gespenstisch sind die Bilder, die gegenüber der geheimen Bücherwand hängen. "Fade to Black" heißt die Serie, die Parreno Mitte der 90er-Jahre begonnen hat: Poster, die bei Licht und von Ferne auf den ersten Blick aussehen wie monochrome Rechtecke in grün, orange, gelb oder blau. Wenn aber, was immer wieder geschieht, im Raum das Licht ausgeht, beginnen die mit phosphoreszierender Tinte bedruckten Poster zu leuchten. Zu sehen sind dann Bilder oder Texte, die mit Parrenos Kunstprojekten der Vergangenheit zu tun haben.

    Ganz in schwarzes Dunkel getaucht ist auch die Halle eine Etage tiefer. Doch dort blitzen immer wieder grell und laut die Glühlampen der sogenannten "Marquees" auf – Lichtobjekte, die an die Leuchtreklamen vor Kinos und Theatern erinnern und die Parreno seit einigen Jahren immer wieder an Eingängen zu Museen oder Kunsthallen zeigte.

    Eine neue Arbeit ist in einem der Treppenhäuser zu sehen – oder vielmehr zu hören. "Blurry Windows" heißt die Installation. Fenster sind mit einer milchigen Folie überzogen, man hört Wasser rauschen, Regen und Gewitter. Die Geräusche versetzen die Vorbeigehenden in eine eigenartige Atmosphäre jenseits von Raum und Zeit. Manipulieren wolle er die Betrachter aber nicht, sagt Philippe Parreno, sondern vielmehr choreografieren.

    "Das Ganze ist wie eine Choreografie – eine nicht-autoritäre Choreografie allerdings, in der die Aufmerksamkeit oder auch Erwartungen der Besucher geweckt werden. Die können damit aber machen, was sie wollen – die Choreografie ist nicht linear."

    Es ist vor allem die Musik Strawinskis, die diese retrospektive Ausstellung zu einem neuen Gesamtkunstwerk macht. Philippe Parreno ‚bespielt’ den Palais de Tokyo und macht die Besucher zu Mitspielern in einer Inszenierung, die den Phantomen der Vergangenheit und Gegenwart so viel Raum lässt, dass man die Zeit darüber fast vergessen könnte.

    Mehr zum Thema:
    Homepage zur Ausstellung von Philippe Parreno im Palais de Tokyo