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Kunstwerke der Natur

Verliebte Strandkörbe, Hühnergötter, geräucherter Frostfisch, heilender Bernstein: Rügen entwickelt in diesen frostigen Tagen eine ganz eigene Mystik. Dampfendes, tosendes Wasser, eine Touristenschönheit, die zur Winterruhe gekommen ist - und Künstler inspiriert.

Von Marion Trutter |
    Rügen Seebrücke
    Rügen Seebrücke (Marion Trutter)
    "Eine Seebrücke im November, wenn der Nebel noch da ist oder kommt, hat eine ganz eigene Mystik. Es ist auch ganz spannend, jetzt im Herbst auf der Sassnitzer Mole entlangzuspazieren, die Sassnitzer Mole ist die längste Außenmole Europas. Und wenn man diese fast 1,6 Kilometer gegangen ist und man ist dort am Leuchtturm in der Regel mit sich und dem Wasser und Möwen und ein paar Schiffen allein, dann ist das doch schon ein ganz schönes Gefühl."

    Lutz Grünke ist Ur-Rügener, in Binz geboren, Fotodesigner. Zum Geldverdienen fotografiert er den Sommer über die üblichen Rügenmotive für Prospekte und Postkarten: Kreidefelsen, Strände, alte Villen. Doch richtig spannend wird es – wie er sagt – erst dann, wenn die Gäste weg sind. In der herbstlichen Übergangszeit zieht Grünke besonders gern mit der Kamera los. Es ist dann kühl und windig, der Kopf wird frei – und Nebel taucht die Insel in ein zauberhaftes, fast gespenstisches Licht. Der Fotograf schaut in dieser Zeit auch hinter die Kulissen der Ferieninsel – auf der Pirsch nach außergewöhnlichen Bildern:

    "Was auch für mich spannend ist, ist: Was passiert mit den Inszenierungen des Sommers im Winter? Was passiert mit den riesigen Tafeln am Strand, die dann demontiert werden und dann eine eigenartige skurrile Grafik haben? Was passiert mit den Lautsprechern des Wasserrettungsdienstes, von denen am Schluss nur noch die Unterkonstruktion bleibt; die Lautsprecher werden abgebaut. Was passiert mit den Fischern, die bei schlechtem Wetter eben auch nicht mehr rausfahren, sondern lieber den Frostfisch räuchern? Also das sind so ganz schöne Sachen, die man eben wirklich nur im Winter erlebt oder außerhalb der Saison erlebt. Und man kommt mit den Leuten, die im Sommer keine Zeit haben, irgendwie in Kontakt, in Gespräche – auch als Insulaner: Mit Insulanern hat man dann wieder die Zeit für Gespräche, die man im Sommer in der Regel nicht hat."

    Die Fischer haben jetzt ebenso Muße wie die Besitzer der Ausflugsboote oder die Frauen, die im Sommer Räucherfisch verkaufen. Überall auf der Insel macht sich eine angenehme Trägheit breit. Wer jetzt zu Besuch kommt, schlurft in aller Ruhe am Strand entlang – eingepackt in dicken Pulli und Regenmantel. Denn das aufgepeitschte Meer schwemmt jede Menge spannende Objekte an Land. Kinder freuen sich über glattgewetzte Glasscherben in allen Farben, sammeln Muscheln und Wurzelstücke, Rettungsringe und Bojen. Und an vielen Strandabschnitten, etwa oben in Sassnitz, sieht man die Menschen mit Plastikschaufeln oder einfach mit den Stiefeln scharren – auf der Suche nach Hühnergöttern:

    "Diese Feuersteine mit Loch, die nennen sich Hühnergötter. Vordergründig ist halt dieser Stein wie so ein Durchblick. Man kann da ja alles Mögliche durch so einen Stein durchsehen, wenn man durchschaut, ob es nun Strandkörbe sind – zwei verliebte Strandkörbe – oder ein altes Fischerboot. Das kann man ja auch mal selber ausprobieren, wenn man am Strand ist und durch so einen Stein hindurchsieht, was man da so alles entdeckt."

    Die Künstlerin Jana Raschke hat Hühnergötter zum Gegenstand ihrer Malerei gemacht. Ihre farbenfrohen Bilder hängen in der Kunstscheune Karow – und immer wieder sieht man im Zentrum der Gemälde einen Feuerstein mit Loch – als Rahmen für Boote, Strandkörbe und andere Meeresmotive.

    Früher glaubten die Menschen, dass die schwarz-weißen Steine das Hausgeflügel gegen böse Geister schützen könnten – daher die Bezeichnung Hühnergott. Und weil man sich was wünschen darf, wenn man durch einen Hühnergott hindurchschaut und sich dabei um die eigene Achse selbst dreht, nehmen Urlauber die magischen Feuersteine gern als Talisman mit nach Hause.

    Und die Rügener Künstler – die schöpfen an den Stränden nicht nur Inspiration – manche sammeln hier auch das Material für ihre Arbeiten:

    "Man findet Steine und man findet Hölzer, die die Natur sozusagen bearbeitet hat - oder die Wellen oder das Licht und das Wasser haben Steine und Holz bearbeitet. Und diese Collagen, die ich mache hier in der Kreativwerkstatt auch, das ist meist nur ganz wenig Papier, und das andere sind diese Naturmaterialien und da geht es meistens schon los mit Sand. Der Sand ist schon so vielfältig: die Körnung. Man könnte eigentlich auch ne Collage machen nur mit dem Sand von den verschiedenen Stränden hier auf Rügen, weil jeder ist anders: Einer ist weiß, einer ist feinkörniger und so weiter."

    ElenNa – so der Künstlername – ist LandArt-Künstlerin und Fotografin. Gemeinsam mit ihrem Partner StefanNo schafft sie Kunstwerke in der Natur – und aus der Natur. Wenn man also an einem Rügener Strand auf merkwürdige Spiralen, Steintürme oder Holzgebilde stößt, waren möglicherweise ElenNa und StefanNo am Werk:

    "Sie müssen sich vorstellen: Man ist am Strand und man gestaltet nur mit Naturmaterialien, die man vor Ort vorfindet. Und auch ohne fremde Hilfe: kein Hammer, keine Zange, kein Beil – nix. Also, indem man zum Beispiel sich sagt: Ich hab jetzt hier wunderbare blaue Steine und es existiert eine Bühnenreihe, und so ist vor drei Jahren diese Lebenslinie entstanden. Oder StefanNo ist allein am Strand und da ist ein Fleck, wo eine Riesenfläche voller mittelgroßer bis kleinerer Hölzer liegt. Und die werden aufgetürmt und dann entsteht was und dann unterhält man sich und dann entsteht ein Titel daraus: Begegnung oder Tor zum Meer und so. Das ist das, was Spaß macht und was die Leute auch inspiriert."

    Auch die Vergänglichkeit spielt hier eine Rolle. Denn die Natur – die so großzügig Material schenkt – baut die Kunstwerke auch gnadenlos wieder ab, wenn etwa die Wellen die Kreationen wegschwemmen oder der Wind alles einfach fortpustet. Nur in den Fotos von ElenNa leben die Projekte fort: faszinierende Bilder, ausgestellt in der Galerie MehrSehen am Kap Arkona.

    Hier oben am Nordostzipfel Rügens haben die beiden LandArt-Künstler jede Menge kreative Nachbarn. Denn rund um die beiden Leuchttürme haben sich Ateliers und Galerien angesiedelt. Über das vielleicht Schönste, auf jeden Fall aber höchste Atelier der Insel freut sich Nils Peters. Der Schmuckdesigner arbeitet ganz oben in der Glaskuppel des alten Peilturms – mit 360 Grad Rundumblick über Insel und Meer ein ganz spezieller Platz:

    "Vor allen Dingen ist es ein sehr historischer Platz, ein Kraftort auch, denn hier stand früher einmal eine Tempelanlage der Slawen, und die Menschen sind aus vielen Ländern hierher gepilgert zu dieser Tempelanlage, bis die Christen die Tempelanlage und die Kultur der Slawen besiegt hatten und nun steht ein anderer Tempel hier, das ist der Peilturm und das ist ein guter Platz, etwas Gutes zu tun, denke ich, an diesem Ort und sich mit einem Lichtbringer zu beschäftigen, wie ich den Bernstein sehe, und den Menschen einfach auch anders nahe zu bringen. Denn was viele nicht wissen ist, dass Bernstein auch heilende Kräfte hat. Es ist ja die Lebenskraft von Harz, Harz von Urwaldbäumen und daher schon heilsam. Es ist ein Lichtbringer, er tut gut."

    In seinem Turm-Atelier macht Nils Peters aus Bernstein besondere Schmuckstücke. Dann sitzt er da direkt unterm Himmel, schleift und poliert die honiggelben Steine – und kombiniert sie mit Aquamarin oder Perlen, mit Gold oder Diamanten. Jedem Stein entlockt er sein ganz eigenes Geheimnis:

    "Durch die Naturkruste hier an der Seite kann man sehen, dass er sehr schöne Einschlüsse hat, fast wie eine Wolke. Und das schleife ich jetzt mal ein bisschen an, um mich so systematisch anzunähern, das Innere sichtbar zu machen. Sie sehen, es entsteht sofort feiner Staub – und wenn Sie daran riechen, dann riecht das leicht weihrauchhaltig. Deswegen ist das schon auch sehr betörend, wenn man hier arbeitet und Bernstein schleift ..."

    ... und sicherlich ist es auch der magische Platz hoch oben im Bernsteinturm, der Nils Peters und seine Besucher verzaubert. Nächsten Sommer werden wieder Hunderte Gäste die Stufen zu seinem Atelier hochklettern, werden den Schmuck und die Aussicht bewundern – und die Magie des Platzes spüren, die zur Poesie anregt:

    "Es ist ein fantastisches Gefühl, weil man ist mitten in den Naturgewalten, mitten im Wind, mitten in der Sonne und auch abends – manchmal arbeite ich auch abends hier unter freiem Sternenhimmel und beobachte das Licht des Leuchtturms hier vorne, wie es dann über die Ostsee wandert und im Dialog mit dem Leuchtturm hinten am Dornbusch auf der Insel Hiddensee zusammenspielt – es ist eine Gnade hier sein zu dürfen."