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Kurras vor Gericht

Am 2. Juni 1967 erschoss der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg. Der Prozess gegen ihn endete mit einem Freispruch, was zum Ausbruch der Studentenrevolte beitrug. Dieses Jahr wurde Kurras als Stasispitzel entlarvt. Seitdem ermittelt der Generalbundesanwaltschaft gegen ihn wegen des Verdachts auf Landesverrats - und die Berliner Staatsanwaltschaft prüft, ob er nun doch wegen Mordes angeklagt werden muss. Ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen Kurras ist bereits zur Anklage gereift: Der 81-Jährige muss sich vor dem Berliner Landgericht wegen unerlaubten Waffenbesitzes verantworten.

Von Dorothea Jung | 12.11.2009
    Berlin, 2. Juni 1967. Auf der Studentendemonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien fallen Schüsse.

    "Mörder! Mörder! - Ich stand am Rande dieses Hofes und habe dann gesehen, wie eine Traube von Polizisten um diesen Mann mit dem roten Hemd herumgruppiert waren und auf ihn losschlugen. Dann habe ich plötzlich das Mündungsfeuer von einer Pistole gesehen, und den Knall von einer Pistole. Im nächsten Moment habe ich gesehen, wie er halb hinter einem Auto auf dem Boden lag und sich nicht mehr regte."

    Der Student Benno Ohnesorg stirbt. Todesschütze Karl-Heinz Kurras muss sich wenig später wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten. Er macht Notwehr geltend und wird freigesprochen. 1970 endet auch ein Berufungsverfahren mit Freispruch. Begründung: Schuldhaftes Verhalten sei dem Polizeibeamten nicht nachzuweisen. Eine Straßenpassantin heute:

    "Da ich so ein bisschen aus der 68er-Zeit komme, wird uns das wahrscheinlich bis zum Tode bewegen, weil das einfach ein Auslöser war für die gesamte Studentenbewegung und alle Hochs und Tiefs, die es gegeben hat."

    Die tödlichen Schüsse des Polizisten Karl-Heinz Kurras und die Tatsache, dass die Justiz kein angemessenes Urteil gegen ihn erwirkte, machten den Tod Benno Ohnesorgs zum Fanal für die Studentenbewegung. Weil die Springerpresse damals Stimmung gegen Studenten gemacht hatte, avancierte sie zum Lieblingsfeind der Protestierenden. "Bild" und "BZ" galten als mitschuldig am Tod des Studenten. Auch deswegen war die Nachricht über Kurras' Spitzeltätigkeit eine Sensation, meint Professor Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin.

    "Nicht eine Sekunde hätte ich geglaubt, dass Kurras, der damals Ohnesorg erschoss, für die Stasi gearbeitet hat. Man sieht also, dass die DDR in Form von SED und Stasileuten doch im Westen viel tiefer vorgedrungen ist, als wir es wahrhaben wollten."

    Die Berliner Senatsverwaltung für Inneres und der Berliner Polizeipräsident haben den Forschungsverbund SED-Staat deswegen mit einer Untersuchung beauftragt.

    "Wir werden im Lauf des nächsten Jahres die Unterlagen, die vorliegen, sichten, sie zeithistorisch interpretieren, und werden dann aufzeigen können, in welchem Maße und in welcher Form die Stasi bei der Westberliner Polizei tätig war."

    Im Mai dieses Jahres war Helmut Müller-Enbergs, ein Mitarbeiter der Forschungsabteilung in der Birthler-Behörde, auf Kurras' IM-Akte eher zufällig gestoßen. Doch der Zündstoff darin war ihm sofort ersichtlich. Schließlich war Kurras' Einheit bei der Berliner Polizei die Abteilung I. Dort liefen alle Fäden zu Themen wie Spionage und Verfassungsschutz zusammen. "Dieser Polizeibeamte war für die Staatssicherheit ein Topagent", sagt Helmut Müller-Enbergs.

    "Er hat aus seinem Arbeitsbereich, der Polizei, sehr umfassend berichtet über Personenstrukturen, Dienstvorschriften und dergleichen. Er hat über seine Kenntnisse über MfS-Zusammenhänge sehr ausführlich berichtet, auch über IM, derer die Polizei habhaft geworden ist, Kenntnisse über Landes- und Verfassungsschutz, über die Nachrichtendienste der Alliierten und so weiter. Eine Kenntnislage, die nur wenige hatten, und das in dem Nadelöhr der Frontstadt Westberlin, wo alle Dienste bei der Abteilung 1 der Kripo anklopfen mussten, um an Informationen zu gelangen."

    Doch der Aktenfund brachte auch Defizite in der Birthler-Behörde ans Licht. Denn von Kurras' IM-Tätigkeit hätte man dort seit sechs Jahren wissen können. Hatte doch bereits 2003 eine Forscherin Akteneinsicht beantragt, um den Einfluss der Stasi auf die Westberliner Innenpolitik zu untersuchen. Allerdings hatte sie ihr Vorhaben derzeit nicht weiter verfolgt. Trotzdem war Kurras' Spitzelakte damals von einem Sachbearbeiter archivarisch erschlossen und abgestempelt worden. Dass ihm dabei die Brisanz des Falles entgangen war, macht für Klaus Schroeder deutlich: Im Archiv der Birthler-Behörde wird nicht sorgfältig genug gearbeitet.

    "Sie sehen auf der Seite: Das steht da, ganz groß! Westberliner Polizei! IM! Auch wenn man keine Ahnung hat und stempelt, hätte man das sehen müssen. Sinnvoll wäre es gewesen, wenn diejenigen, die die Akten erschließen, flüchtig durchgucken und dann ein paar Stichworte aufschreiben für die potenziellen Nutzer, was hier zu finden ist."

    Aber ganz gleich, ob im Stasiunterlagenarchiv schlampig gearbeitet wurde oder nicht: Der Aktenfund rief die Ermittlungsbehörden auf den Plan. Falls Karl-Heinz Kurras noch bis zum Ende der DDR im Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit stand, wäre sein Landesverrat nämlich noch nicht verjährt; die Generalbundesanwaltschaft ermittelt jetzt in dieser Sache. Und falls der Westberliner Polizeibeamte seine Schüsse gar im Auftrag der Stasi abgegeben haben sollte, müsste er sich heute wegen Mordes verantworten - diesem Verdacht geht die Berliner Staatsanwaltschaft nach. Und noch etwas: In den Stasiunterlagen von Karl-Heinz Kurras war zu lesen, dass der IM ein Waffennarr war. Eine Leidenschaft, die laut Helmut Müller-Enbergs das Ministerium für Staatssicherheit großzügig bediente.

    "Dass ein Westberliner Polizist von der Staatssicherheit eine Waffe bekommen hat, Geld für eine P38 mit Kleinkaliberaufsatz, das habe ich zum ersten Mal in 17 Jahren Behördengeschichte gelesen."

    So verwunderte es die Öffentlichkeit wenig, dass die Berliner Polizei bei der Durchsuchung von Kurras Wohnung im Juni dieses Jahres neben zwei registrierten Pistolen mehr als 1500 Schuss Munition sowie einen Revolver der Marke Smith & Wesson, Kaliber 38 Spezial entdeckt hat. Der Revolver soll zusammen mit 165 Patronen schussbereit im Kleiderschrank versteckt gewesen sein. Einen Waffenschein dafür konnte der Pensionär nicht vorlegen. Das ist strafbar - und dafür steht der fleißige IM Otto Bohl alias Karl-Heinz Kurras morgen vor dem Berliner Amtsgericht Tiergarten. Auf einen Anwalt der Gewerkschaft der Polizei muss er dabei allerdings verzichten: Die GdP hat Karl-Heinz Kurras aus ihren Reihen ausgeschlossen. Sein Verfahren ist nur für einen Tag terminiert, mit einem Urteil wird gerechnet.