Alarmistisch gestimmte Zeitgeist- und Medienastrologen sind gerade dabei, eine besonders perfide konservative Tendenzwende ausfindig zu machen. So glaubt Albrecht von Lucke beim früheren SPD-Politiker Sarrazin und beim "lebenslangen SPD-Wähler" Sloterdijk auf den bislang fehlenden Überbau von Schwarz-Gelb gestoßen zu sein. Dazu heißt es in den Blättern für deutsche und internationale Politik:
Gerade in Zeiten der Krise verbindet sich die Haltung der elitären Meinungsmacher, die in Sloterdijk ihr Sprachrohr gefunden haben, mehr und mehr mit einer immer ausgeprägteren Disposition der von Abstiegsängsten gepeinigten Mittelschichten, die begierig die Sarrazinschen Ressentiments aufgreifen. ( ... ) Offenbar spiegeln die Ausbrüche des Ressentiments von oben den zunehmend regressiven Geist in der Mitte der Gesellschaft wider. ( ... ) Insofern könnte es sich, im schlimmsten Fall, um den Gründungsdiskurs einer anderen Republik handeln, der die alten Parameter erheblich verschiebt.
Die Möglichkeit, dass Sarrazin auch den Nerv vieler liberaler Bürger getroffen haben könnte, die wegen erlebter Integrationsverweigerung im Alltag ungeduldig geworden sind, schließen Autoren wie von Lucke offenbar aus. Eher glauben sie, dass Westerwelles "Neoliberalismus" und Schröders "Neue Mitte" endlich die rechtspopulistische Katze aus dem Sack gelassen haben.
Thea Dorn sieht uns dagegen auf dem Weg in eine konturenlose Konsenskultur. Die "hysterischen Reaktionen auf Thilo Sarrazin" zeigten ein "Paradebeispiel für unsere Unfähigkeit, mit polemisch zugespitzten Attacken umzugehen". Im Cicero schreibt sie:
Jeder türkische Einwanderer hat das Recht, sich durch Sarrazins Invektiven beleidigt zu fühlen. Aber so wie unsere Gesellschaft gebaut ist, hat er auch das Recht, Herrn Sarrazin in ebenso scharfen Worten darzulegen, wieso er sich irrt. Dies wäre eine Kultur, die den Namen "Streitkultur" verdient. Hingegen zu fordern, dass dem Querulanten am besten per Gerichtsbeschluss der Mund verboten wird, hat nichts mit einer zivilisatorischen Veredelung des Streitens zu tun, sondern ist das Ende einer jeglichen ernsthaften Streitmöglichkeit.
Ebenso plädiert Thea Dorn für Toleranz gegenüber erratischen Denkern wie Peter Sloterdijk. Unsere Demokratie kenne weiß Gott fragwürdigere Diskursteilnehmer, zum Beispiel:
Jene kulturwissenschaftlich-relativistisch geprägten Zeitkommentatoren, die uns erklären, dass jeder Sozialstaatsausnutzer und Frauenwegsperrer nicht als solcher bezeichnet werden dürfe und darüber hinaus unser Verständnis verdiene, weil sich in einer zunehmend unübersichtlichen Welt ohnehin nicht mehr von "richtig" und "falsch" reden ließe.
Eine Entzauberung der Sloterdijk-Kontroverse abseits aller gängigen ideologischen Schubladen nimmt dagegen Martin Altmeyer in der Zeitschrift Kommune vor:
Sloterdijk weiß, wie es geht ( ... ) Er beherrscht die Regeln jener Ökonomie der Aufmerksamkeit ( ... ) Das Stück besteht aus drei Akten. Im ersten Akt greift man als Partisan der Denkfreiheit ein "gefährliches" Thema auf. Der zweite Akt wird anderen überlassen, die sich empören und Skandal rufen. Den Gegenangriff wiederum entlarvt der Autor im dritten Akt als Nebenskandal. Im Kern handelt es sich beim dramaturgischen Muster um dieses: eine Selbstinszenierung mit Gegnern vor Publikum.
Von sogenannten "elitären Meinungsmachern" war zu Beginn schon die Rede. Auch in der SPD-nahen Neuen Gesellschaft gehört es inzwischen zum guten Ton, die Medien als konspiratives Kollektiv wahrzunehmen, dessen Daseinszweck darin besteht, mit Kampagnen der SPD Schaden zuzufügen. Deren Wahldesaster wird in der November-Ausgabe als "unverdient" beklagt. Folglich muss es Schuldige jenseits der Partei geben. Hier sind welche:
Wähler müssen sich nicht rechtfertigen. Allenfalls sollten sich die neubürgerlich saturierten Journalisten der Republik ein paar Fragen stellen, am besten selbst, die das angeödete Weghöhnen der Sozialdemokratie zu einer Art Massensport der Profession gemacht haben.
Diese schräge Sichtweise wird im gleichen Blatt noch getoppt durch die steile Verschwörungsthese, Teile der Medien hätten Gabor Steingarts "Ansichten eines Nichtwählers" gepowert – natürlich zum Schaden von Steinmeier und Co.:
Diejenigen, die das Lob des Nichtwählers medial pushten, haben ihr Ziel nun erreicht. Auch die Demobilisierung der Wähler half der Wiederherstellung der konservativ-liberalen Regierung nach elf Jahren!
Am Schluss die Zeitschriftenpersonalie des Monats Dezember. Nach der Hamburger SPD soll Michael Naumann jetzt auch
die Zeitschrift Cicero retten. Man darf gespannt sein, wie viel Atem der notorische Hinschmeißer sich dieses Mal gönnen wird, um ein Magazin zu verändern, das bislang durch viel Patchwork und Mehrfachverwertetes auffiel und sich im Hauptstadtteil eher an Frau Riekels "Bunter Illustrierten" denn an einem intellektuellen Maßstab zu orientieren schien.
Zitierte Zeitschriften:
Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2009
Cicero, 12/09
Kommune, 6/09
Neue Gesellschaft, 11/09
Gerade in Zeiten der Krise verbindet sich die Haltung der elitären Meinungsmacher, die in Sloterdijk ihr Sprachrohr gefunden haben, mehr und mehr mit einer immer ausgeprägteren Disposition der von Abstiegsängsten gepeinigten Mittelschichten, die begierig die Sarrazinschen Ressentiments aufgreifen. ( ... ) Offenbar spiegeln die Ausbrüche des Ressentiments von oben den zunehmend regressiven Geist in der Mitte der Gesellschaft wider. ( ... ) Insofern könnte es sich, im schlimmsten Fall, um den Gründungsdiskurs einer anderen Republik handeln, der die alten Parameter erheblich verschiebt.
Die Möglichkeit, dass Sarrazin auch den Nerv vieler liberaler Bürger getroffen haben könnte, die wegen erlebter Integrationsverweigerung im Alltag ungeduldig geworden sind, schließen Autoren wie von Lucke offenbar aus. Eher glauben sie, dass Westerwelles "Neoliberalismus" und Schröders "Neue Mitte" endlich die rechtspopulistische Katze aus dem Sack gelassen haben.
Thea Dorn sieht uns dagegen auf dem Weg in eine konturenlose Konsenskultur. Die "hysterischen Reaktionen auf Thilo Sarrazin" zeigten ein "Paradebeispiel für unsere Unfähigkeit, mit polemisch zugespitzten Attacken umzugehen". Im Cicero schreibt sie:
Jeder türkische Einwanderer hat das Recht, sich durch Sarrazins Invektiven beleidigt zu fühlen. Aber so wie unsere Gesellschaft gebaut ist, hat er auch das Recht, Herrn Sarrazin in ebenso scharfen Worten darzulegen, wieso er sich irrt. Dies wäre eine Kultur, die den Namen "Streitkultur" verdient. Hingegen zu fordern, dass dem Querulanten am besten per Gerichtsbeschluss der Mund verboten wird, hat nichts mit einer zivilisatorischen Veredelung des Streitens zu tun, sondern ist das Ende einer jeglichen ernsthaften Streitmöglichkeit.
Ebenso plädiert Thea Dorn für Toleranz gegenüber erratischen Denkern wie Peter Sloterdijk. Unsere Demokratie kenne weiß Gott fragwürdigere Diskursteilnehmer, zum Beispiel:
Jene kulturwissenschaftlich-relativistisch geprägten Zeitkommentatoren, die uns erklären, dass jeder Sozialstaatsausnutzer und Frauenwegsperrer nicht als solcher bezeichnet werden dürfe und darüber hinaus unser Verständnis verdiene, weil sich in einer zunehmend unübersichtlichen Welt ohnehin nicht mehr von "richtig" und "falsch" reden ließe.
Eine Entzauberung der Sloterdijk-Kontroverse abseits aller gängigen ideologischen Schubladen nimmt dagegen Martin Altmeyer in der Zeitschrift Kommune vor:
Sloterdijk weiß, wie es geht ( ... ) Er beherrscht die Regeln jener Ökonomie der Aufmerksamkeit ( ... ) Das Stück besteht aus drei Akten. Im ersten Akt greift man als Partisan der Denkfreiheit ein "gefährliches" Thema auf. Der zweite Akt wird anderen überlassen, die sich empören und Skandal rufen. Den Gegenangriff wiederum entlarvt der Autor im dritten Akt als Nebenskandal. Im Kern handelt es sich beim dramaturgischen Muster um dieses: eine Selbstinszenierung mit Gegnern vor Publikum.
Von sogenannten "elitären Meinungsmachern" war zu Beginn schon die Rede. Auch in der SPD-nahen Neuen Gesellschaft gehört es inzwischen zum guten Ton, die Medien als konspiratives Kollektiv wahrzunehmen, dessen Daseinszweck darin besteht, mit Kampagnen der SPD Schaden zuzufügen. Deren Wahldesaster wird in der November-Ausgabe als "unverdient" beklagt. Folglich muss es Schuldige jenseits der Partei geben. Hier sind welche:
Wähler müssen sich nicht rechtfertigen. Allenfalls sollten sich die neubürgerlich saturierten Journalisten der Republik ein paar Fragen stellen, am besten selbst, die das angeödete Weghöhnen der Sozialdemokratie zu einer Art Massensport der Profession gemacht haben.
Diese schräge Sichtweise wird im gleichen Blatt noch getoppt durch die steile Verschwörungsthese, Teile der Medien hätten Gabor Steingarts "Ansichten eines Nichtwählers" gepowert – natürlich zum Schaden von Steinmeier und Co.:
Diejenigen, die das Lob des Nichtwählers medial pushten, haben ihr Ziel nun erreicht. Auch die Demobilisierung der Wähler half der Wiederherstellung der konservativ-liberalen Regierung nach elf Jahren!
Am Schluss die Zeitschriftenpersonalie des Monats Dezember. Nach der Hamburger SPD soll Michael Naumann jetzt auch
die Zeitschrift Cicero retten. Man darf gespannt sein, wie viel Atem der notorische Hinschmeißer sich dieses Mal gönnen wird, um ein Magazin zu verändern, das bislang durch viel Patchwork und Mehrfachverwertetes auffiel und sich im Hauptstadtteil eher an Frau Riekels "Bunter Illustrierten" denn an einem intellektuellen Maßstab zu orientieren schien.
Zitierte Zeitschriften:
Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2009
Cicero, 12/09
Kommune, 6/09
Neue Gesellschaft, 11/09