Die einzige Religion, die die Bedürfnisse unserer Zeit befriedigen kann, ist die Religion des Kapitals. Die anderen Religionen sind nichts weiter als Lippenbekenntnisse. Das Kapital ist Gott. Es kennt weder Heimatland noch Grenzen, weder Hautfarbe noch Geschlecht. Er greift sich die jungen, starken gesunden Menschen und verbrennt sie wie Kohle im Schmelzofen. Aber wie fürsorglich, zart und liebevoll ist er seinen Erwählten gegenüber!
Der Autor, von dem diese blasphemischen Zeilen stammen, ist Paul Lafargue. 1842 in Santiago de Cuba geboren, emigrierte er 1851 nach Frankreich und, nach dem Fall der Pariser Kommune, weiter ins Exil nach Spanien. Im selben Jahr gründete Lafargue die erste marxistische Partei Frankreichs, in den nächsten Jahren sollte er zum "geistig bedeutendsten Führer des Sozialismus in Frankreich” werden. Aber nicht nur seines politischen Spürsinns wegen wurde Paul Lafargue berühmt: Er war der politische Ziehsohn von Karl Marx – und zugleich der Ehemann von dessen Tochter Laura, mit der er gemeinsam 1911 Selbstmord beging. 15.000 Menschen begleiteten den Trauerzug zum Friedhof Père Lachaise, wo Lenin im Namen der russischen Sozialdemokratie die Grabrede hielt.
Kameraden, ich möchte unsere Gefühle der tiefen Trauer zum Ausdruck bringen über den Tod von Laura und Paul Lafargue, einem der begnadetsten Verbreiter marxistischer Ideen, vor dem alle Arbeiter Russlands den größten Respekt haben.
Neben seinem "Lob der Faulheit" hinterließ Lafargue ein weiteres Hauptwerk, "Die Religion des Kapitals", das im Berliner Verlag Mathes & Seitz gerade neu herausgegeben worden ist. Lafargue beschreibt eingangs darin die fiktive, verschwörerische Zusammenkunft einer Art Freimaurerloge aus Krupps, Rothschilds und anderen Kapitalisten aller Länder, die sich aufs Höchste beunruhigt davon zeigen, wie in der Welt der Sozialismus grassiert. Wie man in diesem illustren Zirkel die internationale Geldwirtschaft schlechterdings mit "Hochkultur" identifiziert, so sieht man den Arbeiter als evolutionär minderwertiges Wesen. Wie in einer Rückübersetzung aus der Sphäre göttlicher Verfügungsgewalt heißt es in dem "Katechismus des Arbeiters":
Was ist deine Religion? - Die Religion des Kapitals. - Welche Pflichten obliegen dir? - Die Pflicht zu entsagen und die Pflicht zu arbeiten.
Die Religionskritik seiner Tage wendet Lafargue zur Waffe gegen den anderen großen Götzen, den Mammon, der seither in den Kraftzentren der Weltfinanz ein quasi metaphysisches Eigenleben angenommen hat.
Ich bin der lebendige, allgegenwärtige Gott. Ich bin das unendliche Rätsel, das Prinzip der Prinzipien, die unermessliche Seele der zivilisierten Welt. An der Börse, meinem geheiligten Tempel, ströme ich durch die Materie, ohne je zu ermüden, die ewige Wiederkehr des Kapitals nimmt kein Ende.
Die satirische Form der Kritik weist Lafargue als höchst talentierten Schriftsteller aus: Sein exzentrischer Sozialismus war, bei aller weltverbessernden Rhetorik, in hohem Maße zur Selbstironie fähig. Im Gegensatz zu Marx und Engels steht bei Lafargue die Kritik am Konsum im Vordergrund. Das hat Lafargue in den Augen neomarxistischer Situationisten und Vordenker des Pariser Mai 1968 wie Guy Debord zu einem wichtigen Kronzeugen gemacht. Lafargues Motto "Ne travaillez jamais" – "Arbeitet niemals" – wurde damals zum Motto der Proteste. Und auch ins Schrifttum der deutschen Nachkriegsrevolte fand er Eingang, die 68er sprachen in der Anmutung Lafargues ihre Gebete:
Vater unser Kapital, der Du bist von dieser Welt. Allmächtiger Gott, gib uns viele Käufer unserer Waren, gib uns notleidende Arbeiter, die ohne sich aufzulehnen die härteste Arbeit machen, gib uns eitle Dummköpfe, die an unsere Werbung glauben, und führe uns nicht in das Zuchthaus, sondern bewahre uns vor dem Bankrott. Amen.
Wegweisend für die 68er war auch Lafargues dezidierte Kritik des Nationalismus. Die wurde bereits zu des Autors Lebzeiten zum Hintergrund für rassistische Angriffe auf den "Mulatten" Lafargue – Marx selbst sprach von seinem Schwiegersohn abfällig als dem "Neger" oder dem "Kreolen".
Lafargue ist mehr als eine der vielen Leitfiguren des Marxismus. Eigentlich handelt es sich bei ihm schon um eine Übergangsfigur, denn seine Befangenheit in den obligaten Gedanken war geringer als die vieler Zeitgenossen. Mag sein, dass er darum so frappierend aktuell anmutet: Zu einer Zeit, da den Linken unter dem Eindruck des Vabanque-Spiels mancher Turbokapitalisten die Zornesader schwillt, findet Lafargue vielleicht den trefflichsten Ausdruck für eine allgemeine Verletzung des Gerechtigkeitssinns. Wenn es bei ihm heißt, die Religion des Kapitals lehre, dass das Kapital die Gerechtigkeit selbst sei – darf man sich angesichts eines solchen militanten und zugleich geistreichen Zynismus wohl gewiss sein: Lafargues Kritik des Kapitalismus als ein sich selbst kannibalisierendes System kann heute besser denn je gehört und verstanden werden.
Paul Lafargue: Die Religion des Kapitals, ist erschienen im Verlag Matthes & Seitz Berlin, hat 174 Seiten und kostet 14,80 Euro, ISBN: 978-3-88221-748-3.
Der Autor, von dem diese blasphemischen Zeilen stammen, ist Paul Lafargue. 1842 in Santiago de Cuba geboren, emigrierte er 1851 nach Frankreich und, nach dem Fall der Pariser Kommune, weiter ins Exil nach Spanien. Im selben Jahr gründete Lafargue die erste marxistische Partei Frankreichs, in den nächsten Jahren sollte er zum "geistig bedeutendsten Führer des Sozialismus in Frankreich” werden. Aber nicht nur seines politischen Spürsinns wegen wurde Paul Lafargue berühmt: Er war der politische Ziehsohn von Karl Marx – und zugleich der Ehemann von dessen Tochter Laura, mit der er gemeinsam 1911 Selbstmord beging. 15.000 Menschen begleiteten den Trauerzug zum Friedhof Père Lachaise, wo Lenin im Namen der russischen Sozialdemokratie die Grabrede hielt.
Kameraden, ich möchte unsere Gefühle der tiefen Trauer zum Ausdruck bringen über den Tod von Laura und Paul Lafargue, einem der begnadetsten Verbreiter marxistischer Ideen, vor dem alle Arbeiter Russlands den größten Respekt haben.
Neben seinem "Lob der Faulheit" hinterließ Lafargue ein weiteres Hauptwerk, "Die Religion des Kapitals", das im Berliner Verlag Mathes & Seitz gerade neu herausgegeben worden ist. Lafargue beschreibt eingangs darin die fiktive, verschwörerische Zusammenkunft einer Art Freimaurerloge aus Krupps, Rothschilds und anderen Kapitalisten aller Länder, die sich aufs Höchste beunruhigt davon zeigen, wie in der Welt der Sozialismus grassiert. Wie man in diesem illustren Zirkel die internationale Geldwirtschaft schlechterdings mit "Hochkultur" identifiziert, so sieht man den Arbeiter als evolutionär minderwertiges Wesen. Wie in einer Rückübersetzung aus der Sphäre göttlicher Verfügungsgewalt heißt es in dem "Katechismus des Arbeiters":
Was ist deine Religion? - Die Religion des Kapitals. - Welche Pflichten obliegen dir? - Die Pflicht zu entsagen und die Pflicht zu arbeiten.
Die Religionskritik seiner Tage wendet Lafargue zur Waffe gegen den anderen großen Götzen, den Mammon, der seither in den Kraftzentren der Weltfinanz ein quasi metaphysisches Eigenleben angenommen hat.
Ich bin der lebendige, allgegenwärtige Gott. Ich bin das unendliche Rätsel, das Prinzip der Prinzipien, die unermessliche Seele der zivilisierten Welt. An der Börse, meinem geheiligten Tempel, ströme ich durch die Materie, ohne je zu ermüden, die ewige Wiederkehr des Kapitals nimmt kein Ende.
Die satirische Form der Kritik weist Lafargue als höchst talentierten Schriftsteller aus: Sein exzentrischer Sozialismus war, bei aller weltverbessernden Rhetorik, in hohem Maße zur Selbstironie fähig. Im Gegensatz zu Marx und Engels steht bei Lafargue die Kritik am Konsum im Vordergrund. Das hat Lafargue in den Augen neomarxistischer Situationisten und Vordenker des Pariser Mai 1968 wie Guy Debord zu einem wichtigen Kronzeugen gemacht. Lafargues Motto "Ne travaillez jamais" – "Arbeitet niemals" – wurde damals zum Motto der Proteste. Und auch ins Schrifttum der deutschen Nachkriegsrevolte fand er Eingang, die 68er sprachen in der Anmutung Lafargues ihre Gebete:
Vater unser Kapital, der Du bist von dieser Welt. Allmächtiger Gott, gib uns viele Käufer unserer Waren, gib uns notleidende Arbeiter, die ohne sich aufzulehnen die härteste Arbeit machen, gib uns eitle Dummköpfe, die an unsere Werbung glauben, und führe uns nicht in das Zuchthaus, sondern bewahre uns vor dem Bankrott. Amen.
Wegweisend für die 68er war auch Lafargues dezidierte Kritik des Nationalismus. Die wurde bereits zu des Autors Lebzeiten zum Hintergrund für rassistische Angriffe auf den "Mulatten" Lafargue – Marx selbst sprach von seinem Schwiegersohn abfällig als dem "Neger" oder dem "Kreolen".
Lafargue ist mehr als eine der vielen Leitfiguren des Marxismus. Eigentlich handelt es sich bei ihm schon um eine Übergangsfigur, denn seine Befangenheit in den obligaten Gedanken war geringer als die vieler Zeitgenossen. Mag sein, dass er darum so frappierend aktuell anmutet: Zu einer Zeit, da den Linken unter dem Eindruck des Vabanque-Spiels mancher Turbokapitalisten die Zornesader schwillt, findet Lafargue vielleicht den trefflichsten Ausdruck für eine allgemeine Verletzung des Gerechtigkeitssinns. Wenn es bei ihm heißt, die Religion des Kapitals lehre, dass das Kapital die Gerechtigkeit selbst sei – darf man sich angesichts eines solchen militanten und zugleich geistreichen Zynismus wohl gewiss sein: Lafargues Kritik des Kapitalismus als ein sich selbst kannibalisierendes System kann heute besser denn je gehört und verstanden werden.
Paul Lafargue: Die Religion des Kapitals, ist erschienen im Verlag Matthes & Seitz Berlin, hat 174 Seiten und kostet 14,80 Euro, ISBN: 978-3-88221-748-3.