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Kursiv: Ein-Mann-Karneval im Weißen Haus

Erfreulicherweise streift Taylor Branchs in seinem Buch über beiden Amtszeiten des demokratischen US-Präsidenten Bill Clinton die Lewinsky-Affäre nur am Rande – und belegt, dass hinter den Kulissen des Weißen Hauses zurzeit Clintons viel Berichtenswerteres geschah.

Von Gregor Peter Schmitz |
    Es ist eine Leistung, ein Buch über Bill Clinton zu schreiben, dessen saftigste Passage sich nicht um den Ex-US-Präsidenten selber dreht, sondern um dessen ehemaligen russischen Amtskollegen. Der meistzitierte Absatz aus Taylor Branchs 707 Seiten-Werk behandelt nicht Clintons zahlreiche Affären und Skandale, sondern einen Washington-Besuch von Präsident Boris Jelzin, bei dem Clinton erlebte, dass der Russe dem Alkohol mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Staatsgeschäften:

    Es war reines Glück, dass es während der beiden Besuchsnächte keinen Skandal oder gar Schlimmeres gab. Clinton hatte erfahren, dass Agenten des Secret Service Jelzin mitten in der Nacht allein und völlig betrunken auf der Pennsylvania Avenue entdeckten, nur in seiner Unterwäsche, nach einem Taxi rufend. Er wollte Pizza kaufen. Ich fragte Clinton, wie der Vorfall geendet sei. 'Nun', zuckte der Präsident die Achseln, 'er bekam seine Pizza'.
    Weitere saftige Details zieren das Buch, Klatsch über Staatsmänner, gar die Beschreibung von Clintons Interesse an den Brüsten von Sophia Loren. Doch sollten solche Auszüge nicht die einmalige Entstehungsgeschichte von Branchs Aufzeichnungen überschatten. Der Historiker, Clinton aus gemeinsamen Wahlkämpfen in den 60er-Jahren verbunden, traf sich mit dem Präsidenten rund 90mal während dessen Amtszeit zu ausführlichen Interviews, meist im Weißen Haus. Er nahm anschließend seine Gesprächserinnerungen auf Kassette auf, diese übergab er an Clinton, der sie in seinem Sockenschrank versteckte und bis heute verwahrt. Der Präsident selbst hatte diese Geschichtsstunden angeregt, er wollte Branch - einem preisgekrönten Historiker, der eine beachtete Biografie über den Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. verfasst hat - seine Sicht der Dinge schildern:

    Er fragte, welche Art von Information Historiker einst wohl am nützlichsten finden würden. Was würde für die Nachwelt wichtig sein, wie würde sie bewerten, was richtig und was falsch war?
    Branch ist ein eher dröge schreibender Chronist - und ein Befangener. Er half Clinton als Redenschreiber, agierte für ihn gar als Vermittler in Gesprächen mit dem damaligen Präsidenten Haitis, Jean-Bertrand Aristide. Dennoch gelingt ihm das faszinierende Porträt eines Mannes, der laut der New York Times "gegen den zugeköpft wirkenden aktuellen Amtsinhaber wie ein Ein-Mann-Karneval wirkt". Und der sich nie recht entscheiden kann, ob er seinen brillanten Kopf auf Weltpolitik konzentrieren soll, oder lieber auf Scrabble, Football, Frauen - und Kreuzworträtsel:

    Präsident Clinton begrüßte mich an einem späten Mittwochabend in bester Laune. Wie eine Trophäe überreichte er mir eine Sonntagsausgabe des Kreuzworträtsels in der New York Times, das sich um den 20. Todestag von Elvis Presley drehte. 'Neun Minuten!' jubelte er. Er hätte es in neun Minuten komplett gelöst - und wäre noch schneller gewesen, hätte er nicht selber lachen müssen, wie viele Elvis-Bagatellen er in seinem Kopf gespeichert hatte.
    Branch zeigt Clinton aber auch in der schmollenden und selbstverliebten Stimmung, die den Demokraten in sinnlose Kämpfe mit Presse und Republikanern verstrickte - und schließlich wohl gar in die Affäre mit Monica Lewinsky. Die erörtert das Buch nur oberflächlich. Clinton bestellt Branch in den schwierigen Monaten nach dem Eingeständnis des Seitensprungs nicht zum Gespräch. Der Historiker, der über Martin Luther Kings schillerndes Privatleben geforscht hat, schreibt:

    King schien seine persönliche Schuld kompensieren zu wollen, indem er zur Selbstaufopferung neigte. Mir war nicht klar, was Clinton antrieb. Wenn die Gerüchte stimmten, mussten die Clintons viele Narben tragen. Aber wir fanden die Ehe alles andere als lieblos. Ihre private Beziehung wirkte niemals kalt. Wir hofften, dass angesichts der fast verheerenden Gennifer-Flowers-Affäre im Wahlkampf Clintons großes Hirn und großer Ehrgeiz ihn von Seitensprüngen während seiner Amtszeit abhalten würden.
    Diese Hoffnung erfüllt sich bekanntlich nicht. Branchs Buch zeigt den Menschen Clinton hinter dem gängigen Klischee, auch weil der Historiker tiefern Einblick in dessen Familienleben erhielt als andere. Der Präsident will Staatsbesuche schwänzen, um seiner Tochter bei den Hausaufgaben zu helfen. Er schwärmt in den Gesprächen mit Branch von Chelseas Entschlossenheit:

    Ihre Füße hatten immer nach den Ballett-Stunden geblutet, seit sie ein kleines Kind war. Trotzdem entschied sie sich für Ballett, statt für Kunst oder andere Sportarten, für die sie besser geeignet war. "Ich habe das immer bewundert", sagte Clinton. "Ich frage mich, ob ich an etwas so hängen könnte - nur um der Sache selber willen.
    Eine umfassende Beurteilung von Clintons politischem Vermächtnis liefert Branch freilich nicht. Der Autor ist überzeugter Demokrat. Wenn er überhaupt Kritik an Clinton äußert, dann an dessen späterem Schwenk zur Mitte. Und so nah Branch dem Präsidenten auch stand, so fremd bleibt am Ende selbst ihm der Mann mit den zwei Gesichtern - weiser Staatsmann und rücksichtsloser Vollblutpolitiker.

    Gregor Peter Schmitz über Taylor Branch: The Clinton-Tapes. Wrestling History In The White House, Verlegt bei Simon & Schuster, 720 Seiten, in Deutschland für etwa 18 Euro erhältlich (ISBN: 978-1-84737-140-9 ).