Archiv


Kursiv: Eine politische Inszenierung

Arundhati Roy ist eine erfolgreiche indische Autorin - der ihr 1997 verliehene Booker-Preis ist nur ein Beleg dafür. Die Essaysammlung über eine angebliche Attacke auf das Indische Parlament kurz nach dem 11. September 2001, an der Arundhati Roy maßgeblich mitgewirkt hat, sorgt in Indien für mächtig Ärger.

Von Gerhard Klas |
    Eigentlich will Arundhati Roy seit Jahren einen neuen Roman schreiben. Aber die politischen Ereignisse lassen ihr kaum Zeit dazu. Die Stimme der weltberühmten Schriftstellerin hat Gewicht, und sie fühlt sich verpflichtet, sie gegen Ungerechtigkeiten zu erheben. Sie schreibt politische Essays, die nicht nur in Indien, der größten Demokratie der Welt, viel beachtet werden.

    Und die polarisieren, wie zum Beispiel die Essaysammlung "13. Dezember - Der seltsame Fall der Attacke auf das Indische Parlament", zu dem sie das Vorwort und ein Kapitel geschrieben hat. Dieser Angriff fand drei Monate nach den Anschlägen des 11. September 2001 statt, während der Regierungszeit der Indischen Volkspartei BJP. Und er schlägt bis heute hohe Wellen. Die Attentäter erschossen sechs Polizisten und einen Gärtner, es gab 18 Verletzte. Alle fünf Attentäter kamen ums Leben.

    Beschuldigt wurden zwei Terrororganisationen aus Pakistan und die Regierung ließ Militär an der pakistanischen Grenze aufmarschieren. Beinahe kam es zu einem "heißen Krieg" zwischen den beiden Nuklearmächten. In Indien wurden vier mutmaßliche Hintermänner und Helfer des Attentats festgenommen, einer davon, Muhammad Afzal, zum Tode verurteilt. Das Buch erschien fünf Jahre später und wurde 2007 aktualisiert. Es macht auf zahlreiche Widersprüche aufmerksam: Bis heute ist die Identität der Attentäter nicht bekannt, die Filme der Überwachungskameras sind weder der Öffentlichkeit noch den Gerichten zugänglich. Im indischen Wahlkampf wird das Buch auch von seinen Gegnern in Stellung gebracht. Zum Beispiel von Lal Krishna Advani, dem Spitzenkandidaten der BJP, der größten Oppositionspartei in Indien, der die Autoren des Buches - Anwälte, Wissenschaftler, Journalisten und die Schriftstellerin Arundhati Roy - angreift.

    "Advani, der im Herbst 2008 in einigen Bundesstaaten auf Wahlkampftour war, zog auf riesigen Kundgebungen unsere Essaysammlung aus der Tasche und sagte: Seht euch diese Leute an, sie stellen unsere Gerichte in Frage. Sie sind anti-national. 'Hängt Muhammad Afzal' lautete eine seiner Kampagnen im Wahlkampf."
    Die Hinrichtung Muhammad Afzals, der bis heute in der Todeszelle sitzt, treibt die Hindunationalisten von der Indischen Volkspartei BJP seit seiner Verurteilung im Dezember 2002 um. Widersprüche sollen unter den Tisch gekehrt werden. Deshalb fordert Lal Krishna Advani, der Spitzenkandidat der BJP, das Buch Arundhati Roys und ihrer Mitstreiter zu verbieten. Einige Hindu-Nationalisten wollen Arundhati Roy sogar wegen Landesverrats ins Gefängnis werfen lassen.

    Die Autoren tragen zahlreiche Fakten zusammen, die kein gutes Licht auf den indischen Rechtsstaat werfen: Grundlage für das Todesurteil des Supreme Courts, des Höchsten Gerichts in Indien, waren Selbstbeschuldigungen des Angeklagten unter Folter und fragwürdige Beweise. Es gab nicht einmal einen Rechtsanwalt, der ihm zur Seite stand. Die Autoren halten fest, dass es keine Beweise gegen Muhammad Afzal gibt, die einer Überprüfung standhalten. Deshalb fordern sie, die Parlamentsattacke neu zu untersuchen. Außerdem habe das Rechtsstaatsprinzip bitteschön auch für Terrorverdächtige zu gelten. Arundhati Roy weist zudem auf die Rolle der Medien während des Gerichtsverfahrens hin.

    "Der Fernsehsender NDTV zeigte die Foltervideos von Muhammad Afzal. Währenddessen lief am unteren Bildrand ein Ticker. Dort stand geschrieben: 'Hängt ihn an den Eiern auf in Lal Chowk' Das ist der größte Marktplatz in Srinagar, der Hauptstadt im indischen Teil Kaschmirs. Und dann kommt das Gericht und behauptet, mit dem Todesurteil das öffentliche Gewissen der Gesellschaft zufrieden zu stellen. Ein öffentliches Gewissen, das von diesem Medien-Wahnsinn erzeugt wurde. Und die Gerichte fügen sich auf ihre Art diesem Wahnsinn. Die Medieninszenierung und das Gerichtsurteil stehen in einem Zusammenhang. Wir befinden uns in einem riesigen Dilemma."
    Denn durch diese Hetzjagd und ihre nachträgliche juristische Rechtfertigung ist ein Beispiel gesetzt worden. Behördenwillkür gegen Minderheiten nimmt ständig zu. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch häufen sich vor allem in Kaschmir - aber auch in anderen indischen Bundesstaaten - so genannte "fake encounter", außergerichtliche Hinrichtungen durch die Polizei. Regelrecht zum Freiwild werden Angehörige von Minderheiten, auch wenn sie sich nachgewiesenermaßen nichts haben zu Schulden kommen lassen.

    Bei der Lektüre des Buches über die Attacke auf das Indische Parlament stellt sich unweigerlich die Frage, ob es sich bei dem Angriff nicht um eine politische Inszenierung gehandelt hat. Wenige Wochen nach dem 11. September 2001 war das für die damalige Regierungskoalition unter Führung der BJP ein willkommener Anlass, ihre Macht zu festigen und ein neues Anti-Terror-Gesetze zu verabschieden, das jeglichem Rechtsstaatsprinzip Hohn spricht und Geständnisse unter Folter als gerichtverwertbar ansieht. Auf dieser Grundlage ist Muhammad Afzal schließlich verurteilt worden. Das Gesetz wurde unter einer neuen Regierung im September 2004 aufgehoben, aber das Höchste Gericht bestätigte 2005 das Todesurteil mit dem fadenscheinigen Argument, es müsse das öffentliche Gewissen zufrieden stellen.

    Indische Politiker bezeichnen die Autoren des Buches als Verschwörungstheoretiker und wollen sie mundtot machen. Uday Bhaskar, ehemaliger Direktor des Instituts für Verteidigungsfragen IDSA und Militärberater der indischen Regierung von 2005 bis 2007, verteidigt jedoch Arundhati Roy.

    "Leider waren die gesamte Polizei und Gerichtsbarkeit in Indien nicht in der Lage zu beweisen, dass sie glaubwürdig sind. Sie haben die Fragen der Zweifler nicht beantwortet, einschließlich der von Arundhati Roy. Es gibt viele Leute in Indien, die über sie und ihre Beobachtungen sehr aufgebracht sind. Aber ich bin der Ansicht, dass sie mit ihrer abweichenden Meinung einen sehr wichtigen Beitrag für die demokratische Praxis leistet."
    Das für juristische Laien verständlich geschriebene und gut lektorierte englischsprachige Buch enthält auch ein Interview aus der Todeszelle mit dem aus Kaschmir stammenden Muhammad Afzal. Arundhati Roy und ihre Mitstreiter haben mit ihren Essays über die Attacke auf das Indische Parlament keine Verschwörungstheorie, sondern einen mutigen Beweis für ihr demokratisches Engagement vorgelegt. Damit haben sie vor allem die politischen Kräfte in Indien verärgert, die mit einfachen Feindbildern und polizeistaatlicher Willkür ihre Macht festigen wollen.

    In unserer Rubrik "kursiv" war das ein Ausblick auf den Büchermarkt in Indien. Gerhard Klas über die Essaysammlung "13. September - Der seltsame Fall der Attacke auf das Indische Parlament". Das Buch ist auf Englisch bei Penguin Books erschienen.