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Kursiv: Emotional eingemauert

Unmittelbar nach der friedlichen Revolution in der DDR, mitten im Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten, erschien 1990 das Buch "Der Gefühlsstau von dem Hallenser Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz. Maaz beschrieb darin die Mechanismen, die aus vielen Bürgern der DDR unmündige, infantile und fremdbestimmte Wesen machten, die ihre unterdrückten Gefühle mit Ersatzbefriedigungen kompensierten.

Von Henry Bernhard | 27.09.2010
    Dem Therapeuten ist jeder ein Patient – bei Bedarf auch ein ganzes Volk. Hans-Joachim Maaz legte 1990 ein ganzes Volk auf die Couch. Was war das Besondere an seinem "Gefühlsstau"? Maaz machte sich Luft; nach 40 Jahren Leben im Sozialismus und 16 Jahren Arbeit als Psychotherapeut sprach er mit Wut und Offenheit Worte aus, die heute noch bestehen können:

    Das entscheidende Wirkungsprinzip des "real existierenden Sozialismus" war Gewalt: Es gab die direkte offene Gewalt durch Mord, Folter, Schießbefehl, Inhaftierung und Ausbürgerung, und es gab die indirekte Gewalt durch Rechtsunsicherheit, Repressalien, Drohungen, Beschämungen, durch Indoktrination und durch ein System von Nötigung, Einschüchterung und Angst.
    Maaz umreißt zunächst den DDR-Machtapparat und seine Instrumente: Staat, Partei, Justiz, Staatssicherheit, die Schule. Dieser Unterdrückungsapparat ist inzwischen hinlänglich bekannt. Die Stärke von Maaz' Buch ist jedoch, dass er nicht nur wie der Junge in Andersens Märchen "Des Kaisers neue Kleider" ausruft: "Aber der Kaiser ist ja nackt!", sondern dass er sich mit den charakterlichen Deformationen beschäftigt, die zuvor nahezu alle dazu brachten, wider besseres Wissen dem nackten Kaiser und seiner vermeintlich schicken Kleidung zu huldigen. Dabei ordnet er hier Institutionen dem Unterdrückungsapparat bei, deren Auswahl überrascht: Die Familie, die Kirchen, die Medizin. Sie alle hätten dazu beigetragen, einen autoritären, gebückten, gebrochenen Charakter zu formen, den man benötigte, um im Sozialismus nicht anzuecken.

    In der Regel war die Tragik der psychischen Vergewaltigung in den "geordneten Familien" als noch schlimmer einzuschätzen als zum Beispiel Prügel, weil die Kinder schlechtere Chancen hatten, das ganze Elend ihrer Kindheit und die Wahrheit über ihre Eltern zu erfahren als brutal geschlagene Kinder.
    Hier – und nicht nur hier – geht Maaz zu weit, wenn er verallgemeinert, über einen Kamm schert, nicht zeitlich differenziert. Viele Phänomene, die er beschreibt, waren zeitversetzt zuvor auch im Westen zu beobachten: So zum Beispiel Hass und Repression gegen sogenannte "Halbstarke" oder eine prüde Sexualmoral. Aber die 80er-Jahre waren nicht die 50er-Jahre und nicht jede Familie erzog ihre Kinder zu Duckmäusern. Und manchmal liegt er wohl einfach falsch, weil er seine 5000 Patienten als Datenbasis nimmt und der DDR-Bevölkerung als Ganzes sexuelle Frustration, Humorlosigkeit, Lieblosigkeit und Gefühlsarmut unterstellt. Maaz wendet individualtherapeutische Methoden auf ein ganzes Volk an – und manchmal liegen seine Bilder arg schief. Soziologie ist doch noch etwas anderes als vertausendfachte Psychologie.

    Oft meint Maaz die Menschen in der DDR zu beschreiben – und skizziert doch den Menschen in der modernen Industriegesellschaft, der entfremdet von seinen Gefühlen und Bedürfnissen lebt und sich mit Ersatzbefriedigungen das schmerzliche Nachdenken über sich und seine Umwelt vom Leibe hält.

    Trotzdem ist er oft ganz nah dran an den Mechanismen der äußeren und inneren Unfreiheit, die den autoritären Charakter bestimmen, den schon Heine in seinem Wintermärchen als so steif beschrieb "als hätten sie verschluckt den Stock, mit dem man sie einst geprügelt".

    Wir waren ein gefühlsunterdrücktes Volk. Wir blieben auf unseren Gefühlen sitzen, der Gefühlsstau beherrschte und bestimmte unser ganzes Leben. Wir waren emotional so eingemauert, wie die Berliner Mauer unser Land abgeschlossen hat.

    Und so gelingt Maaz die Beschreibung des Umbruchs in der DDR nicht überzeugend. Es habe keine Revolution stattgefunden, weil sich die psychischen Strukturen der Menschen nicht verändert hätten. Die Menschen hätten sich erst dem sozialistischen Experiment und dann den Verheißungen der D-Mark unterworfen. Das ist zu pauschal und entwürdigt den Freiheitsdrang der rebellierenden DDR-Bürger 1989. Maaz' Verdienst ist es jedoch, früh darauf hingewiesen zu haben, dass eine Befreiung von politischen Fesseln der Diktatur noch keine Befreiung von der eigenen Geschichte ist: Fast jeder hat sich in der DDR engagiert oder zumindest arrangiert, hat Kompromisse geschlossen, sich verbogen und sein Gewissen verleugnet. Viele haben Schuld, fast alle haben Verantwortung dafür auf sich geladen, dass eine verlogene und lächerliche Politbürokratie so lange fast unwidersprochen an der Macht bleiben konnte. Darüber nachzudenken, auch über die eigene Fähigkeit zum allumfassenden Opportunismus, haben bis heute die meisten versäumt, die die DDR bewusst erlebt haben. In diesem Sinne hat der "Gefühlsstau", wie Maaz ihn nennt, sich bis heute keine Bahn gebrochen. Aber auch den wiedervereinigten Bundesbürger entlässt Maaz nicht in die historische Unschuld.
    Das Mangelsyndrom ist im Westen sicher auch zu diagnostizieren, doch dürfte der äußere Wohlstand eine wesentliche kompensatorische Funktion einnehmen. Es ist zu befürchten, dass die inneren Probleme länger und geschickter unter dem äußeren Glanz verborgen bleiben. Die Zukunft wird uns lehren, ob die leichtere und bessere äußere Befriedigung einen Segen oder einen Fluch darstellt.


    Henry Bernhard über Hans Joachim Maaz: Der Gefühlsstau. Mit neuem Vorwort und verändertem Untertitel – nun lautet er "Psychogramm einer Gesellschaft" ist das Buch in diesem Jahr in der Beck'schen Reihe wiederveröffentlicht worden, es umfasst 288 Seiten und kostet 14 Euro und 95 Cent, ISBN: 978-3-40660-098-2.


    Weitere Neuerscheinungen zur deutschen Einheit (Auswahl):

    Annette Jensen: Im Osten was Neues. Unterwegs zur sozialen Einheit. Rotbuch Verlag, 286 Seiten, € 14,95 (ISBN 978-3-86789-116-5)

    Franz Josef Jung: Die letzten Tage der Teilung. Wie die deutsche Einheit gelang. Herder Verlag, 200 Seiten, € 17,95 (ISBN 978-3-4513-0324-1)

    Claus Christian Malzahn: Deutschland 2.0. Eine vorläufige Bilanz der Einheit. dtv premium, 134 Seiten, € 12,90 (ISBN 978-3-423-24798-6)

    Lothar de Maizière: Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen. Meine Geschichte der deutschen Einheit. Herder Verlag, 320 Seiten, € 19,95 (ISBN 978-3-4513-0355-5)

    Klaus Schroeder: Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört. wjs Verlag, 249 Seiten, € 19,95 (ISBN 978-3-937989-66-2)

    Richard Schröder: Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit. Herder Spektrum, 256 Seiten, € 9,95 (ISBN 978-3-4510-6253-7)

    Beatrice von Weizsäcker: Die Unvollendete. Deutschland zwischen Einheit und Zweiheit. Lübbe Verlag, 288 Seiten, € 16,99 (ISBN 978-3-7857-2417-0)