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Kursiv: "Es denkt in der DDR"

Obwohl Bücher, die sich kritisch mit dem System des real existierenden Sozialismus auseinandersetzten, in der DDR selbst in aller Regel nicht erscheinen durften, kursierten Abschriften davon in Oppositionskreisen. Ein in vielerlei Hinsicht typisches Buch dieser Art war 1977 Rudolf Bahros "Die Alternative". Typisch, weil der Autor mitten aus der DDR-Gesellschaft, ja sogar aus der SED selbst kam.

Von Harald Kleinschmid |
    Im November 1976 wurde der Liedermacher Wolf Biermann nach einem Konzert in Köln ausgebürgert, die danach einsetzende Protestwelle namhafter Künstler und Schriftsteller machte den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit im realen Sozialismus in der DDR für alle Welt sichtbar. Die theoretische Analyse dafür lieferte nicht einmal ein Jahr später, im August 1977, der Ingenieurökonom Rudolf Bahro mit seinem Buch "Die Alternative", dem er in Anlehnung an Karl Marx den Untertitel gab: "Zur Kritik des real existierenden Sozialismus". Immer das Risiko einer Verhaftung durch die Staatssicherheit vor Augen, hatte Bahro die Veröffentlichung des Buches im Westen sorgfältig vorbereitet samt eines Selbstinterviews, das die ARD am Tag des Erscheinens sendete.
    Die Veröffentlichung schlug in der DDR wie eine Bombe ein. Dabei war die Staatssicherheit mindestens ein Jahr zuvor schon über das Vorhaben informiert.

    Denn Rudolf Bahro wusste, wovon er sprach. Der 1935 Schlesien Geborene wurde schon mit 17 Kandidat der SED, zwei Jahre später Mitglied. Seinen ersten Konflikt mit der Partei erlebte er 1967 als Vize-Chefredakteur der Studentenzeitung "Forum", als die Herrschenden den Vorabdruck eines Stückes des Schriftstellers Volker Braun über den "Kipper Paul Bauch" nach zwei Ausgaben stoppten. Ein Jahr später öffnete ihm die Niederschlagung des Prager Frühlings endgültig die Augen.

    Schon der erste Absatz gab die Richtung vor:

    Die kommunistische Bewegung trat an mit dem Verspechen, die Grundprobleme der modernen Menschheit zu lösen, die Antagonismen der menschlichen Existenz zu überwinden. Was war das aber für ein besseres Leben, das wir schaffen wollten. War das nur jener mittelmäßige, in sich selbst perspektivlose Wohlstand, mit dem wir dem Spätkapitalismus so erfolglos den Rang abzulaufen versuchen? Wir wollten ein andere, höhere Zivilisation schaffen!
    Rudolf Bahro wollte also keinesfalls den Sozialismus abschaffen. Er analysierte vielmehr auf über 500 Seiten dessen Fehlentwicklungen, und verfolgte konsequent das Ziel einer "kommunistischen Alternative", das schon der Titel suggerierte.

    Er enttarnte die Diktatur des SED-Politbüros, dessen Allmacht und Unkontrollierbarkeit. Die Parteiführung verschleiere ihre Herrschaft durch die Bennennung des mächtigsten Mannes im Staate als "Sekretär" und seiner ranghöchsten Gefolgschaft als "Büromitglieder".

    Es waren diese Erkenntnisse, die das westliche Interesse an dem Buch gewaltig beförderten. Dagegen wurde seine fundamentale Kritik an globalem Wachstumsfetischismus und Naturzerstörung kaum wahrgenommen. Seine gesellschaftspolitische "Alternative" war für die Mehrheit im Westen unannehmbar.

    Assoziation statt Subordination der Individuen zu ihren verschiedenen subjektiven und objektiven Zecken. Assoziation der Kommunen zur nationalen Gesellschaft; Assoziation der Nationen zu einer befriedet kooperierenden Welt; Vermittlung zur jeweils höheren Einheit durch von der Basis gewählte Delegierte. So kann man sich die Ordnung vorstellen, in der die Bedingungen realer Freiheit zusammenfallen mit denen realer Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kommunismus ist nicht nur notwendig, er ist auch möglich. Ob er wirklich wird, das muss im Kampf um seine Bedingungen entschieden werden.
    Das meiste vom dem, das vor diesen letzten Zeilen der "Alternative" geschrieben war, gab der DDR-Führung den Anlass, Bahro sofort nach Erscheinen zu verhaften und zu acht Jahren Haft wegen "Geheimnisverrats" zu verurteilen. Es folgte eine breite internationale Protestwelle und nach zwei Jahren seine Freilassung und Abschiebung in den Westen.

    Wirklich Fuß fassen konnte er hier allerdings nicht. Bis zu seinem Tod Ende 1997 mit dem Klischee eines "grünen Romantikers bedacht, entzog sich Bahro jedem Klischee und blieb sich selbst zeitlebens treu.

    Im Selbstinterview zur Veröffentlichung der "Alternative" hatte er den Satz geprägt: "Es denkt in der DDR." Dieser Satz erfuhr zwölf Jahre später, im Herbst 1989, seine Bestätigung.

    Harald Kleinschmid über Rudolf Bahros "Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus." Erschienen in der Europäischen Verlagsanstalt 1977, 542 Seiten (derzeit nur antiquarisch erhältlich)