Giuseppe Baldini, der Pariser Parfümeur in Patrick Süskinds Roman "Das Parfum", hatte ein Problem mit dem "Geschwindigkeitswahn" seiner Zeit. "Wozu", fragte er, "braucht man die vielen neuen Straßen? War es von Vorteil, wenn man bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Oder über den Atlantik in einem Monat nach Amerika zu rasen? Wem war daran gelegen?" Ja, wem eigentlich? Den Herrschern zum Beispiel: Sie konnten ihre Heere schneller verlegen. Oder den Kaufleuten: Sie vertrieben rascher ihre Waren. Und auch den Wissenschaftlern: Sie verbreiteten effizienter ihre Ideen! Kurz: Geschwindigkeit ist die Voraussetzung für Fortschritt. Baldini misstraute diesem Gedanken, und nicht nur er: Die Skepsis gegenüber Beschleunigung und Geschwindigkeit gehört zum guten Ton gesellschaftspolitischer Debatten. Auf die Spitze getrieben hat sie der französische Philosoph Paul Virilio in seinem 1990 erschienenen Essay "Rasender Stillstand".
"In Zukunft dient die Beschleunigung weniger der mühelosen Fortbewegung (Intervall) als vielmehr dem Sehen, der mehr oder weniger klaren Wahrnehmung (Interface), wobei die "hohe Auflösung des Realen" ausschließlich von der mehr oder weniger großen Übertragungsgeschwindigkeit der Erscheinungen und nicht mehr nur von der Transparenz der Atmosphäre oder der verschiedenen Materialien abhängt."
"Dromologie" nennt der 1932 in Paris geborene und noch heute dort lebende Autor seine Kulturtheorie, die die Geschichte des Menschen aus dem Blickwinkel von "Geschwindigkeit" betrachtet. Die Erfindung des Rades, die Domestizierung von Pferden, der Bau von Kutschen, Eisenbahnen, Autos und Flugzeugen: All dies waren Schritte hin zu Macht und Wohlstand - zumindest für die, die unmittelbar davon partizipierten. Verglichen mit der Geschwindigkeit digitaler Medien, sind dies aber harmlose Entwicklungen. Das Internet lässt Bilder und Informationen unaufhörlich über Monitore auf uns einstürzen. Mit fatalen Folgen: Der Mensch nimmt zwar in Echtzeit teil an der mobilen Welt, wird dadurch gleichzeitig aber zur Immobilität verurteilt.
"Die häusliche Interaktivität, d. h., der zunehmende Verlust der Beziehung zur äußeren Umwelt, ist … eine technische Form des Komas. Ein "Koma" jedoch, das nicht zu diesem todesgleichen Zustand führt, … sondern es führt lediglich zu diesem "vegetativem Zustand" der häuslichen Bewegungslosigkeit der DOMOTIK, ein insgesamt "bewohnbares Koma"."
Bildschirme werden "eines Tages die Betrachtung der Umwelt ersetzen"
Paul Virilio beschreibt, was viele Mütter Anfang der 90erJahre mit Schrecken beobachteten: Kinder, die wie erstarrt vor Monitoren saßen, und Ware of the Lance, Double Dragon oder The Last Ninja spielten, einzig unterbrochen von Pausen für Pizza und Cola. Zu jener Zeit waren das noch holprige Bilder, Virilio erkannte aber hellsichtig, dass Bildschirme digitale Fenster zur analogen Welt seien, die niemand mehr betreten müsse. In sechs Kapiteln - und in hochartifizieller Sprache, die nicht immer leicht zu lesen ist - entwickelt Virilio seine These. Er spannt dabei einen weiten Bogen von alltäglichen Beobachtungen in der Pariser Metro über die Relativitätstheorie Albert Einsteins bis hin zum Hippie-Guru Timothy Leary. Seine Diagnose: Die Menschheit stehe vor einer "medialen Gettoisierung". Kassandrisch warnt Virilio vor der…
"…Industrialisierung des Sehens, dieser realzeitlichen radio-elektrischen Aufnahmen, die dazu in der Lage sind, eines Tages die Betrachtung der Umwelt zu ersetzen oder sogar zu verdrängen."
Man mag solche Sätze als krassen Kulturpessimismus abtun, unbestreitbar beeinflusst aber die digitale Rezeption der analogen Wirklichkeit unser Verhalten und unsere Wahrnehmung: Facebook und Twitter, Spiegel Online und deutschlandradio.de lassen grüßen! Trotzdem hat Virilios Ideenwelt Brüche, die ihren Grund in der technischen Weiterentwicklung haben. Für Virilio waren Bildschirme immobile Geräte, vor denen Menschen in katatone Zustände versanken; tatsächlich kommen Bildschirme aber heute mobil als Smartphones und Tablet-PCs daher. Der prognostizierte "rasende Stillstand" hat sich eher in eine rasende Hypermobilität gewandelt. Näher dran an der heutigen Realität ist Virilio mit seiner Überlegung zur gesellschaftlichen Überwachung.
"Im 21. Jahrhundert wird derjenige, der den Bildschirm kontrolliert, das Bewusstsein kontrollieren…"
…zitiert Virilio den amerikanischen Psychologen Timothy Leary. Der mit bewusstseinserweiternden Drogen experimentierende Leary hatte dabei weder Data Mining noch den Sammelwahn der NSA im Blick. Die umfassende Kontrolle der Bildschirme führt aber zu einem Bewusstseinswandel: Den einen ist alles egal, sie geben ihre Privatsphäre auf; den anderen bleibt nichts weiter übrig, als ihr Surfverhalten radikal einzuschränken - womit sie sich indes keinem "rasenden Stillstand" nähern, sondern eher einem entschleunigten.
Paul Virilio "Rasender Stillstand" (1990), Fischer Taschenbuch Verlag, 160 Seiten, 8,95 Euro.