Freitag, 29. März 2024

Archiv


Kursiv Klassiker: Gemeinwille statt Summe der Einzelwillen

Rousseau hat Revolutionäre wie Robespierre oder Fidel Castro beflügelt, er hat Karl Marx ebenso beeinflusst wie Sigmund Freud. In seinem "Contrat social", dem Gesellschaftsvertrag, definiert Rousseau die Freiheit des Einzelnen im Kontext staatlicher Ordnung - und ist damit auch bei Occupy-Aktivisten unserer Tage wieder aktuell.

Von Günter Müchler | 25.06.2012
    Es ist ein Tag im Oktober 1749. Paris stöhnt unter der Hitze. Rousseau macht sich auf den Weg nach Vincennes, wo sein Freund Diderot im Gefängnis sitzt. Beim Durchblättern einer Zeitung erfährt er, dass die Akademie von Dijon einen Wettbewerb mit der Preisfrage ausgeschrieben hat: Hat die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften zur Reinigung der Sitten beigetragen? - Wie ein Blinder, der sehend wird, weiß Rousseau auf einmal, was er zu tun hat.

    Im Augenblick, als ich dies las, sah ich eine andere Welt und ich wurde ein anderer Mensch.

    Rousseau gewinnt den Wettbewerb und ist mit einem Schlag berühmt. Ein Erweckungserlebnis steht also am Anfang von Rousseaus Karriere. Das macht ihn zum Außenseiter in der Ruhmeshalle der Aufklärung. Tatsächlich profiliert sich Rousseau gegen die Aufklärung, das heißt gegen die in seiner Zeit dominierende Vorstellung, dass die Befreiung und die Hebung des Menschengeschlechts sich allein einstelle durch den Gebrauch des Verstandes. Er lehnt die Zivilisation und ihre Gaben nicht ab. Aber sie sind nur eine Äußerlichkeit. Worauf es ankommt, ist die Innerlichkeit.

    Zurück zur Natur! Diese Worte hat Rousseau nie geschrieben, aber sie bilden sein Denken gut ab. Gefühl, Empfindsamkeit: Rousseau ist der Philosoph der warmen Farben. Alle kulturkritischen Bewegungen werden bei ihm Anleihe nehmen, zuletzt die 68er und die Grünen.

    Aus der 68er-Zeit stammt auch mein Exemplar von "Staat und Gesellschaft", erschienen in der verdienstvollen Reihe Goldmanns gelbe Taschenbücher. Es ist die Übersetzung des berühmten Contrat Social, den Rousseau 1762 verfasste und der seine Wirkung als politischer Philosoph begründete. Im Zentrum der Abhandlung steht die volonté générale, jener vertrackte Gemeinwille, der keineswegs die Summe der Einzelwillen darstellt, und der mir bis heute rätselhaft geblieben ist. Wie kann sich unter freien Menschen das ausnahmslos gemeinsame Wollen einstellen, wenn nicht durch Repression? Damals markierte ich eine Passage auf Seite 21:

    Damit also der Gesellschaftspakt keine leere Formalität sei, schließt er stillschweigend folgende Verpflichtung ein, die den anderen allein Nachdruck verleihen kann: Wer immer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, wird von der Gemeinschaft dazu gezwungen. Das bedeutet nichts anderes, als dass man ihn zwingen wird, frei zu sein.
    Dass man ihn zwingen wird, frei zu sein. Man hat Rousseau einen Vordenker totalitärer Herrschaft genannt. Und wirklich lässt seine Lehre von der volonté générale keinen Raum für den freien Ideenwettstreit. Sie ist eine Lehre des Ausschließenden und öffnet das Tor sperrangelweit für säkulare Heilsgewissheiten und ihre Anwender. Ob Rousseau die terreur der bald folgenden Revolution gutgeheißen hätte, ist fraglich. Unbestreitbar ist jedoch, dass Robespierre den "großen Jean Jacques" bewunderte, und dass sich im jakobinischen Wohlfahrtsausschuss wie auch im Kult des Höchsten Wesens Spuren des Rousseauschen Denkens wiederfinden.

    Was die 68er aus dem Contrat Sociale herauslasen, waren im wesentlichen Anleitungen zur Basisdemokratie. Sie übersahen dabei, dass Rousseau, der Bürger von Genf, seine Gedanken für Stadtstaaten entwickelte, nicht für Großgesellschaften.

    Überhaupt teilt Rousseau das Schicksal vieler bedeutender Denker, dass der Zeitgeist nur das aus ihrem Werk herausfiltert, was ihm zur Stützung dient. Es lohnt sich also, den Contrat Sociale ein zweites Mal zu lesen. Als ich es jetzt tat, fiel mir auf, dass Rousseau längst nicht so naiv war, wie es sich mir eingeprägt hatte. Er erkannte sehr wohl den Strich durch die Rechnung seines Erziehungsprogramms, der darin besteht, dass der neue, bessere Mensch vom Alten, Verderbten geschaffen werden muss. An einer Stelle, sie handelt von der Gesetzgebung, wirft Rousseau gleichsam das Handtuch, wenn er einräumt, eigentlich brauche man Götter, um den Menschen Gesetze zu geben. Noch etwas entdeckte ich beim Wiederlesen - Rousseaus wunderbare Sprache. Seine philosophische Prosa gehört mit zur Besten, die je geschrieben wurde. Wie ein Fanfarenstoß sind die ersten Sätze des Contrat Sociale:

    Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten. Mancher hält sich für den Herrn der anderen, der dennoch mehr Sklave ist als sie.
    Übrigens fragt Rousseau unmittelbar anschließend, wie es zu dieser Veränderung gekommen sei. Er antwortet: Ich weiß es nicht. Als Student muss ich dieses für einen Philosophen ungewöhnliche Eingeständnis überlesen haben. Jetzt steht im zerfledderten Goldmann-Büchlein dahinter ein großes Ausrufezeichen.

    Günter Müchler über Jean-Jacques Rousseau: Du Contrat social. Zu lesen im Reclam-Verlag, 380 Seiten für Euro 9,80, ISBN: 978-3-150-18682-4.