Mit diesem Thema werde er keine akademische Karriere machen, warnte der berühmte New Yorker Politologe Franz Neumann seinen angehenden Doktoranden Raul Hilberg im Winter 1950. Der aus Wien stammende, 24-jährige Hilberg, hatte Neumann nämlich angekündigt, eine Dissertation über "Die Ermordung der europäischen Juden" schreiben zu wollen. Das Thema werde auf wenig Interesse stoßen, prognostizierte Neumann, es gelte als zu düster und abseitig. Dennoch begann Hilberg mit dem Studium der deutschen Akten, das ihn über viele Jahre hinweg beanspruchte.
Aus den Unterlagen ergab sich ein ganz anderes Bild, als es in der Öffentlichkeit der damaligen Zeit kolportiert wurde. Schon das zahlenmäßige und räumliche Ausmaß des Mordgeschehens, die unglaubliche Vielfalt von Einzelmaßnahmen, die in die Hunderttausende gehende Zahl der Mittäter, ließen Vorstellungen von einem geheimen Geschehen, in das außer Hitler nur noch wenige Vertraute eingeweiht gewesen wären, als ganz absurd erscheinen.
Im Jahre 1954 legte Hilberg, mit 28 Jahren, seine Untersuchung vor. Sie wurde an der Columbia Universität hoch gelobt und ausgezeichnet – aber nicht gedruckt. Hilberg war seiner Zeit um Jahre voraus; das Mysteriöse, das den Judenmord zu dieser Zeit nicht nur in der Kolportageliteratur umgab, fehlte ebenso wie der akademisch getragene Ton, der dem monströsen Geschehen jedenfalls etwas Bedeutsames, Würdiges verleihen sollte: Ein Verbrechen dieser Kategorie verlangte nach gewiss bösen, aber doch wenigstens großen Motiven. Hilbergs Darstellungen und Analysen schienen demgegenüber unangemessen, zu prosaisch, zu spröde.
So erschien das Buch erst 1961 in englischer Sprache – und wurde ein ausgesprochener Non-Seller. Übersetzungen blieben aus. Hilberg hatte, wie wir heute wissen, eines der wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts geschrieben, aber wie Neumann vorausgesagt hatte: Eine wissenschaftliche Karriere machte er damit nicht. Er wurde Professor für Politik an einer Provinzuniversität in den Bergen von Vermont und lehrte vor allem über das amerikanische Regierungssystem. Auch in der Bundesrepublik gab es für dieses Thema kein Publikum.
Wo der Judenmord nicht abgestritten wurde, sei es heimlich, sei es öffentlich, wurde er ins Sakrale verdrängt. Immerhin gab es mit Droemer-Knaur einen Verlag, der sich für eine deutsche Ausgabe interessierte, aber nach Lektüre des Manuskripts wieder abwinkte, mit der erstaunlichen Begründung, das Buch könnte womöglich den Rechtsradikalen Auftrieb geben.
Ein paar Jahre später, nun aber schon im Zeitalter von Studentenbewegung und APO, wurde das Buch dem Rowohlt-Verlag vorgelegt. Der Lektor Raddatz lehnte ab: Das sei gewiss interessant, aber das Buch sei so dick - er könne dann mehrere Lyrikbändchen nicht publizieren, das wolle er nicht verantworten. Hilbergs Buch war erneut unzeitgemäß. Für die linken Antifaschisten, die die Deutschen von ihrem "Judenknacks" heilen wollten, waren die Juden die Opfergruppe des Establishments.
War Hilberg in den 1950er und 60er-Jahren von rechts isoliert worden, wurde er es jetzt von links. Der Judenmord blieb in Deutschland wie anderswo etwas, wozu man eine Meinung hatte, aber nicht viel wissen musste. Erst 1992 erschien Hilbergs Buch über die Vernichtung der europäischen Juden in einer erweiterten, dreibändigen Ausgabe im Fischer-Taschenbuchverlag.
Die bisherige Auflage liegt bei 45.000 Exemplaren. In seinen Memoiren bezeichnete Hilberg seinen langjährigen Kampf um die Verbreitung seines großen Buches und die Jahrzehnte der Isolierung und Ablehnung sarkastisch als "Dreißigjährigen Krieg", wenngleich er den Bedeutungszuwachs der internationalen Holocaustforschung seit den späten 80er-Jahren mit Genugtuung konstatierte.
"20 Prozent" antwortete er auf die immer wiederkehrende Frage, wie viel wir denn über die Geschichte des Judenmords heute wüssten. Erst dreißig Jahre nach dem Krieg reiste Raul Hilberg wieder nach Deutschland, und er bekannte offen, wie verwundert – und erfreut - er über die politische und gesellschaftliche Entwicklung war, die die Bundesrepublik genommen hatte. Und er wehrte sich gegen alle Versuche, ihn zu einem Monument zu machen.
"Erst beachten sie mich nicht, dann machen sie mich zu einem Heiligen", bemerkte er dazu bei einer Konferenz in Jerusalem im Sommer 2002. "Beide Male lesen sie meine Bücher nicht".
Der Historiker Ulrich Herbert über Raul Hilberg: "Die Vernichtung der europäischen Juden". Das Werk ist in einer dreibändigen Ausgabe des Fischer Taschenbuchverlags erhältlich. 1352 Seiten kosten 19 Euro 95.
Aus den Unterlagen ergab sich ein ganz anderes Bild, als es in der Öffentlichkeit der damaligen Zeit kolportiert wurde. Schon das zahlenmäßige und räumliche Ausmaß des Mordgeschehens, die unglaubliche Vielfalt von Einzelmaßnahmen, die in die Hunderttausende gehende Zahl der Mittäter, ließen Vorstellungen von einem geheimen Geschehen, in das außer Hitler nur noch wenige Vertraute eingeweiht gewesen wären, als ganz absurd erscheinen.
Im Jahre 1954 legte Hilberg, mit 28 Jahren, seine Untersuchung vor. Sie wurde an der Columbia Universität hoch gelobt und ausgezeichnet – aber nicht gedruckt. Hilberg war seiner Zeit um Jahre voraus; das Mysteriöse, das den Judenmord zu dieser Zeit nicht nur in der Kolportageliteratur umgab, fehlte ebenso wie der akademisch getragene Ton, der dem monströsen Geschehen jedenfalls etwas Bedeutsames, Würdiges verleihen sollte: Ein Verbrechen dieser Kategorie verlangte nach gewiss bösen, aber doch wenigstens großen Motiven. Hilbergs Darstellungen und Analysen schienen demgegenüber unangemessen, zu prosaisch, zu spröde.
So erschien das Buch erst 1961 in englischer Sprache – und wurde ein ausgesprochener Non-Seller. Übersetzungen blieben aus. Hilberg hatte, wie wir heute wissen, eines der wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts geschrieben, aber wie Neumann vorausgesagt hatte: Eine wissenschaftliche Karriere machte er damit nicht. Er wurde Professor für Politik an einer Provinzuniversität in den Bergen von Vermont und lehrte vor allem über das amerikanische Regierungssystem. Auch in der Bundesrepublik gab es für dieses Thema kein Publikum.
Wo der Judenmord nicht abgestritten wurde, sei es heimlich, sei es öffentlich, wurde er ins Sakrale verdrängt. Immerhin gab es mit Droemer-Knaur einen Verlag, der sich für eine deutsche Ausgabe interessierte, aber nach Lektüre des Manuskripts wieder abwinkte, mit der erstaunlichen Begründung, das Buch könnte womöglich den Rechtsradikalen Auftrieb geben.
Ein paar Jahre später, nun aber schon im Zeitalter von Studentenbewegung und APO, wurde das Buch dem Rowohlt-Verlag vorgelegt. Der Lektor Raddatz lehnte ab: Das sei gewiss interessant, aber das Buch sei so dick - er könne dann mehrere Lyrikbändchen nicht publizieren, das wolle er nicht verantworten. Hilbergs Buch war erneut unzeitgemäß. Für die linken Antifaschisten, die die Deutschen von ihrem "Judenknacks" heilen wollten, waren die Juden die Opfergruppe des Establishments.
War Hilberg in den 1950er und 60er-Jahren von rechts isoliert worden, wurde er es jetzt von links. Der Judenmord blieb in Deutschland wie anderswo etwas, wozu man eine Meinung hatte, aber nicht viel wissen musste. Erst 1992 erschien Hilbergs Buch über die Vernichtung der europäischen Juden in einer erweiterten, dreibändigen Ausgabe im Fischer-Taschenbuchverlag.
Die bisherige Auflage liegt bei 45.000 Exemplaren. In seinen Memoiren bezeichnete Hilberg seinen langjährigen Kampf um die Verbreitung seines großen Buches und die Jahrzehnte der Isolierung und Ablehnung sarkastisch als "Dreißigjährigen Krieg", wenngleich er den Bedeutungszuwachs der internationalen Holocaustforschung seit den späten 80er-Jahren mit Genugtuung konstatierte.
"20 Prozent" antwortete er auf die immer wiederkehrende Frage, wie viel wir denn über die Geschichte des Judenmords heute wüssten. Erst dreißig Jahre nach dem Krieg reiste Raul Hilberg wieder nach Deutschland, und er bekannte offen, wie verwundert – und erfreut - er über die politische und gesellschaftliche Entwicklung war, die die Bundesrepublik genommen hatte. Und er wehrte sich gegen alle Versuche, ihn zu einem Monument zu machen.
"Erst beachten sie mich nicht, dann machen sie mich zu einem Heiligen", bemerkte er dazu bei einer Konferenz in Jerusalem im Sommer 2002. "Beide Male lesen sie meine Bücher nicht".
Der Historiker Ulrich Herbert über Raul Hilberg: "Die Vernichtung der europäischen Juden". Das Werk ist in einer dreibändigen Ausgabe des Fischer Taschenbuchverlags erhältlich. 1352 Seiten kosten 19 Euro 95.